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sammenfallen und seine Seele mit Asche
bestreuen? Nein, sein Empfinden hat Kraft
über die Dinge und Erscheinungen. Herr-
lich, ruft er, sind Die, die sich ausgelebt
und ihr Leben bestimmt haben; die sich
selbst Schicksal gewesen und die Becher
zu leeren verstanden. Denn Die können
dann die zurückgebliebene, leer gewordene
Form lächelnd und glückselig hinwerfen,
wie die frohen feinen Trinker die leeren
Becher an die Wand werfen.
So hat uns Theokrit ewige Denkmale
reinsten Griechenthums zurückge-
lassen. Er spricht mit dem Munde eines
Weisen und aus der Seele eines Kindes,
in dessen Spiel ein hoher Sinn liegen soll.
Hat er allein all das gesungen, was
die Überlieferung uns gibt? Die Gelehrten
schütteln das Haupt und zweifeln. Aber
als Moses sich aus dem Lager entfernte,
siehe, da erstanden plötzlich neue Pro-
pheten, die mit seinem Munde redeten.
Und an das Wort Emersons muss ge-
dacht werden: »Ersteht der Menschheit
ein Genie, so ist es, als ob es mit den
tausend Armen seiner und späterer Gene-
rationen schriebe. Es geht plötzlich ein
grosser Contact durch die Menschheit.«
Theokrit brachte wieder Wärme in
eine schier erstarrte Welt; Zenons Schatten
hatten sich verflüchtigt. Ein lächelndes
Schauen gab es nun überall — man ver-
gass das Beschauen für eine Weile. So
beginnt alle grosse Tragik.
Und dann kam das Christenthum.
So warst Du mir ein kurzer Sommer-
traum, Theokrit, ein Sommer mit rauschen-
den Wäldern, Bienengesumme, wandernden
Volkssängern und einer tiefen grossen Stille.
Ein Sommer, der mir von alten Dingen
mit jungen Lippen sprach. Ich las aus
Dir heraus und las in Dich hinein.
Und dann kam ein grauer, grauer
Herbst und all die Tage für müde Seelen.
Plötzlich merkte ich es, dass ich wieder
weit, weit von Dir stand. Mich scheidet
eine kranke Sehnsucht, uns scheidet alle
eine kranke Sehnsucht und Kreuze, die
auf allen Wegen stehen, von Dir. Du
warst der Sohn der Natur, aber wir sind
ihre verlorenen Söhne. Das ist die Krank-
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heit zweier Jahrhunderte gewesen; immer
wollten wir zu Mutter Natur zurückkehren
und immer mehr entfernten wir uns von
ihr. Wir kamen für Momente heim, wir
armen Waisen, und konnten nur noch
verfallene Gräber, begrüssen. Wir giengen
als enterbte Erben weg, still und sehn-
süchtig. Wir haben versucht, die zer-
sprungene Glocke der alten Tragödie zu-
sammenzulöthen; Heinrich Kleist läutete
sie, aber die Welt verstand die Töne nicht
mehr, und er musste sterben. Dann kamen
die grossen Misstöne und die vielen Nuancen
eines Tones. Die Sehnsucht wuchs und
zitterte in einsamen Geistern, die immer
einsamer werden mussten. Uniforme Welt-
anschauungen brachen herein; ein mercan-
tiler Geist sargte eine Philosophie um die
andere ein. Trotzig, mit emporgeschwun-
genem Hammer erstand der Einzelne und
tausend kleine moderne Herostrate, aber
auch er musste erschreckt sein Haupt
neigen vor all den leeren Urnen. Uns
blieb nur der grosse oder kleine, der edle
oder brutale Selbstgenuss. Als Selbstge-
niesser oder als Hilfesuchende traten wir
der Natur entgegen. Ein Märchen wurde
sie uns, ein schauriges, geheimnisvolles
Märchen — und wir hatten die Angst
verwaister Kinder.
Das war Rousseaus angstvoller Ruf,
das war Turgenjews überfeinerte Natur-
liebe. Turgenjew, der in die Natur mit
jener unheimlichen Schärfe blickte, wie
wir ein Mädchen anblicken, das wir ge-
liebt und das wir nun verlassen müssen.
Und daher kamen die gebrochenen Farben,
all die kranke Liebe des Jacobsen; er
küsste die Natur, wie man eine geliebte
todte Mutter küsst. Und daher dieser
empörte Ruf des Tolstoi. Es ist immer
dieselbe Angst, dieselbe Unfähigkeit zu
einer ersten wunschlosen Liebe. Wir können
keine Cultur mehr schaffen — und die
grossen Begabungen fallen in die Welt,
wie Körner auf einen sterilen Boden.
Goethe fühlte sich einsam, unser Mäch-
tigster, und Bismarck spürte einen leisen
Schauer, als er sein Werk überschaute.
»Nicht mehr hell zu machen ist das
Wasser, in welches ein Tropfen Tinte
gefallen ist« (Baschkirtzew). Auch in unsere
Seele ist ein solcher Tropfen gefallen.
Wir kennen deshalb nur das grelle Lachen
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