Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 419

Kaiserin Elisabeth Schweigen (Barrès, MauricePoe, Edgar Allan)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 419

Text

POE: SCHWEIGEN.

angefault durch die Commentare, die in
formlosen, klebrigen Haufen an ihn heran-
gekrochen. Man muss aus dem Granit
eines Pascal, Rousseau, Byron und Chateau-
briand geformt sein, um Schmarotzern zu
widerstehen, von denen schwankende Ge-
stalten sehr rasch entehrt und entstellt
werden, Gestalten, die in uns zwar Be-
trachtungen wachzurufen vermögen, aber
es vernachlässigt haben, sich in Kunstform
umzusetzen und ihre reizvolle Beweglich-
keit in standfeste Vollkommenheit zu
wandeln.





















Auguste Comte wiederholte täglich
in seinen »Gebeten« eine Formel, die er
von Frau Clothilde de Vaux hatte, und
deren Doppelsinn in einer eingehenderen
Studie über die herrlichen Enthüllungen
des Dr. Christomanos entwickelt werden
sollte; es sind das die Worte: »Es ist
grosser Herzen unwürdig, das Leid zu
verbreiten, das sie selbst empfinden«.


SCHWEIGEN.
Von EDGAR ALLAN POE.

Die Gipfel der Berge schlummern;
Thäler, Felsen und Höhlen schweigen.

Höre mich an — sagte der Dämon
und legte seine Hand auf mein Haupt.
Das Land, von dem ich spreche, ist ein
trauervolles Land in Libyen, an den Ufern
des Flusses Zaïre. Und dort ist nicht Ruhe,
noch Schweigen.

Die Wasser des Flusses sind von safran-
gelber, kranker Farbe; und sie strömen
nicht weiter, dem Meere zu, sondern
bäumen sich ewig unter dem rothen Auge
der Sonne mit stürmischer, krampfhafter
Bewegung empor. Zu jeder Seite des
schlammigen Flussbettes zieht sich viele
Meilen weit eine bleiche Wüste giganti-
scher Wasserlilien hin. Sie seufzen einander
durch die Einöde zu und recken ihre
langen, gespenstigen Hälse zum Himmel
empor und schütteln ihr unvergängliches
Haupt. Und es geht ein undeutliches
Murmeln von ihnen aus, wie von dem
Rauschen eines unterirdischen Stromes.
Und sie seufzen einander zu.

Aber ihr Reich hat eine Grenze —
die Grenze ist ein dunkler, schreckenvoller,
hoher Wald. Das niedrige Unterholz ist,
wie die Meereswellen um die Hebriden, in

immerwährender Bewegung. Und doch
regt sich kein Hauch am Himmel. Und
die ungeheueren Urwaldbäume schwanken
ewig mit machtvollem Rauschen hin und
her. Und aus ihren hohen Gipfeln tropft
immerwährender Thau. Und zu ihren
Füssen winden sich seltsame, giftige Blumen
in unruhigem Schlummer. Und über ihren
Häuptern eilen die grauen Wolken mit
lautem Rauschen immer westwärts, bis sie
als Katarakt über die feurigen Mauern des
Horizonts hinabstürzen. Und doch ist kein
Hauch am Himmel. Und an den Ufern
des Flusses Zaire ist nicht Ruhe noch
Schweigen.

Es war Nacht, und der Regen fiel;
und da er fiel, war es Regen, aber da er
gefallen, war es Blut. Und ich stand im
Sumpfe unter den hohen Lilien, und der
Regen fiel auf mein Haupt, und die Lilien
seufzten einander zu in der Feierlichkeit
ihrer Verlassenheit.

Und plötzlich gieng durch einen leichten
geisterhaften Nebel der Mond auf und war
von carmoisinrother Farbe. Und meine
Blicke fielen auf einen ungeheueren grauen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 419, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0419.html)