Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 420

Schweigen (Poe, Edgar Allan)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 420

Text

POE: SCHWEIGEN.

Felsen, der am Ufer des Flusses stand
und vom Licht des Mondes beleuchtet
wurde. Der Felsen war grau und düster
und hoch — der Felsen war grau.
In seiner steinernen Stirn schienen Schrift-
züge eingegraben; und ich schritt durch
den Sumpf der Wasserlilien und näherte
mich dem Felsen, die Inschrift zu
lesen. Doch konnte ich sie nicht entziffern.
Und ich schritt in den Sumpf zurück, als
der Mond in höherem Roth aufleuchtete;
und ich wandte mich um, blickte wieder
zu dem Felsen, zu den Schriftzügen empor;
— und die Schriftzüge lauteten: VER-
LASSENHEIT.

Und ich blickte aufwärts. Da stand
ein Mann auf dem Gipfel des Felsens;
und ich verbarg mich unter den Wasser-
lilien, um die Bewegungen des Mannes zu
erspähen. Und der Mann war von hoher,
gebietender Gestalt und von den Schultern
bis zu den Füssen in eine altrömische Toga
gehüllt. Und die Umrisse seiner Erscheinung
schienen undeutlich — aber seine Züge
waren die Züge einer Gottheit; denn der
Mantel der Nacht und des Nebels, des
Mondes und Thaues konnten den Glanz
seiner Züge nicht verdecken. Seine Stirne
war hoch und gedankenvoll, und sein Auge
blickte seltsam schmerzerregt, und die
Furchen seiner Wangen sprachen von
Kummer, von Müdigkeit, von Menschen-
hass und grosser Sehnsucht nach Ein-
samkeit.

Und der Mann liess sich auf dem
Felsen nieder und stützte sein Haupt in
die Hand und blickte in die Verlassen-
heit hinaus. Er blickte hinab in das
niedrige, unruhige Gesträuch und auf die
hohen Urwaldbäume, hinauf in die rau-
schenden Wolken und in den carmoisin-
rothen Mond. Ich lag im Schütze der
Lilien verborgen und erspähte die Bewe-
gungen des Mannes. Und er zitterte in
der Einsamkeit; — doch die Nacht schritt
vor, und er sass auf dem Felsen.

Und der Mann wandte seine Blicke
von dem Himmel ab und schaute auf den
trüben Fluss Zaïre und auf die gelben, un-
heimlichen Wasser und auf die bleichen
Legionen der Wasserlilien. Und er lauschte
auf die Seufzer der Wasserlilien und auf
das Murmeln, das von ihnen ausgieng.
Und ich lag in meinem Versteck und be-

obachtete seine Bewegungen. Und er
zitterte in der Einsamkeit; — doch die
Nacht schritt vor, und er sass auf dem Felsen.

Da drang ich in die tiefen Schlupf-
winkel des Sumpfes und watete in die
Wildnis der Lilien hinein und rief die
Hippopotami, die in den Tiefen des
Sumpfes wohnen. Die Hippopotami hörten
meinen Ruf und kamen mit den Behe-
moths bis an den Fuss des Felsens und
brüllten laut und schauerlich unter dem
Monde. Ich lag noch immer in meinem
Versteck und beobachtete die Bewegungen
des Mannes. Und er zitterte in der Einsam-
keit; — doch die Nacht gieng hin, und er
sass auf dem Felsen.

Da verfluchte ich die Elemente mit
dem Fluche des Aufruhrs; und ein entsetz-
licher Sturm erhob sich am Himmel, an
dem vorher kein Hauch gewesen. Und
der Himmel erblich vor der Heftigkeit
des Sturms, und der Regen schlug auf
das Haupt des Mannes, und die Wasser
des Flusses traten über ihre Ufer, und
der Fluss wurde zu Schaum gepeitscht,
und die Wasserlilien schrien auf in ihrem
Bett, und der Wald zerbröckelte im Winde
— und der Donner rollte — und der
Blitz zuckte — und der Felsen erbebte
in seinen Grundfesten. Ich aber lag in
meinem Versteck und beobachtete die
Bewegungen des Mannes. Und er zitterte
in der Einsamkeit; — doch die Nacht
gieng hin, und er sass auf dem Felsen.

Da fasste mich Zorn und ich ver-
fluchte mit dem Fluche des Schweigens
den Fluss und die Lilien, den Wind
und den Wald, den Himmel, den Donner
und die Seufzer der Lilien. Und der
Fluch traf sie, und sie wurden stumm.
Und der Mond hielt inne auf seinem Pfade
um den Himmel — und der Donner starb
hin — und der Blitz sprühte nicht mehr
— die Wolken hiengen unbeweglich, und
die Wasser strömten in ihr Bett zurück
und blieben darin, — und die Bäume hörten
auf zu schwanken, — und die Lilien
seufzten nicht mehr — und kein Murmeln
gieng von ihnen aus, noch auch der
Schatten eines Tons aus der ungeheueren,
grenzenlosen Wüste. Und ich blickte zu
den Schriftzügen des Felsens empor, und
sie hatten sich geändert; — sie bildeten
das Wort: SCHWEIGEN.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 420, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0420.html)