Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 421

Schweigen (Poe, Edgar Allan)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 421

Text

POE: SCHWEIGEN.

Und meine Blicke fielen auf das An-
gesicht des Mannes, und sein Angesicht
war bleich vor Entsetzen. Voll Hast erhob
er das Haupt aus seiner Hand, stand
aufrecht auf dem Felsen und lauschte.
Aber aus der ungeheueren, grenzenlosen
Wüste klang kein Ton, und die Schriftzüge
auf dem Felsen waren: SCHWEIGEN.

Und der Mann erschauerte und wandte
sein Angesicht ab und floh hinweg, so dass
ich ihn nicht mehr sehen konnte.

Es stehen schöne Erzählungen in den
Büchern der Magier — in den eisen-
gebundenen, melancholischen Büchern der
Magier. Dort stehen, sage ich, glorreiche
Geschichten vom Himmel und von der
Erde und von dem machtvollen Meere —

und von den Genien, die das Meer
und die Erde und den hohen Himmel
beherrschten. Es war auch viel Weisheit
in den Worten, welche die Sybillen sagten;
und heilige, heilige Dinge haben ehemals
die dunklen Blätter, die um Dodona zitter-
ten, vernommen; aber so wahr Allah
lebt, die Fabel, die mir der Dämon
erzählte, als er im Schatten des Grabes
an meiner Seite sass, halte ich für das
Wunderbarste von Allem. Und als der
Dämon seine Geschichte beendet, stürzte
er sich in die Tiefen des Grabes und
begann zu lachen. Ich vermochte nicht mit
dem Dämon zu lachen, und er verfluchte
mich, weil ich nicht mit ihm lachen konnte.
Und der Luchs, der für alle Ewigkeit im
Grabe wohnt, kam hervor, legte sich zu
den Füssen des Dämons nieder und blickte
ihm unbeweglich ins Auge

Wir beginnen hier mit der Publication einiger Dichtungen Edgar Allan Poes, die bisher
im Deutschen noch nicht erschienen sind
. Die Übertragungen sind von H. Moeller-
Bruck besorgt und einer Ausgabe entnommen, die im Winter, gelegentlich des 50jährigen
Todestages des Dichters, im Verlage von S. C. C. Bruns, Minden, erscheinen wird. Die kleinen
Miniaturausgaben, die das deutsche Publicum bisher mit dem seltsamen Phänomen Poe be-
kanntzumachen suchten, waren nach heute veralteten Kriterien zusammengestellt; in über-
grosser Mehrzahl hatten darin jene mysteriösen Geschichten und Criminalnovellen Platz ge-
funden, die nur von dem scharfen Analytiker Poe Zeugnis ablegen konnten, während der
nervöse Visionär, der sublime Liebeslyriker, so gut wie gar nicht darin vertreten war. Wir
freuen uns, aus der erwähnten Ausgabe, die diesem Mangel abhelfen und den heute »modernen«
Poe zum erstenmale in deutscher Sprache vorführen will, einige Proben in dieser Nummer
und in den nächsten Heften bringen zu können. D. RED.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 421, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0421.html)