Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 422

Gedichte (Walser, Robert)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 422

Text

GEDICHTE
Von ROBERT WALSER (Thun, Schweiz). HELLE.

Graue Tage, wo die Sonne
Sich wie eine blasse Nonne
Hat geberdet, sind nun hin.
Blauer Tag steht blau da oben,
Eine Welt ist frei erhoben,
Sonn’ und Sterne blitzen drin.
Alles das vollzog sich stille,
Ohne Lärm, als grosser Wille,
Der nicht Federlesens macht.
Lächelnd öffnet sich das Wunder,
Nicht Raketen und nicht Zunder
Braucht’s dazu, nur klare Nacht.

ZU PHILOSOPHISCH.

Wie geisterhaft im Sinken
Und Steigen ist mein Leben.
Stets seh’ ich mich mir winken,
Dem Winkenden entschweben.

Ich seh’ mich als Gelächter,
Als tiefe Trauer wieder,
Als wüsten Redeflechter,
Doch alles dies sinkt nieder.

Und ist zu allen Zeiten
Doch niemals recht gewesen.
Ich bin vergessne Weiten
Zu wandern auserlesen.

ENTTÄUSCHUNG.

Ich habe so lang
Gewartet auf süsse
Töne und Grüsse —
Nur einen Klang.

Nun ist mir bang.
Nicht Töne und Klingen,
Nur Nebel dringen
Im Überschwang.

Was heimlich sang
In dunkler Lauer:
Versüsse mir Trauer
Jetzt schweren Gang.

UND GIENG.

Er schwenkte leise seinen Hut
Und gieng, heisst es vom Wandersmann.
Er riss die Blätter von dem Baum
Und gieng, heisst es vom rauhen Herbst.
Sie theilte lächelnd Gnaden aus
Und gieng, heisst’s von der Majestät.
Es klopfte nächtlich an die Thür
Und gieng, heisst es vom Herzeleid.
Er zeigte weinend auf sein Herz
Und gieng, heisst es vom armen Mann.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 18, S. 422, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-18_n0422.html)