Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 549

Werden und Vergehen (Scholz, Wilhelm von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 549

Text

SCHOLZ: WERDEN UND VERGEHEN.

leicht haftet unser Blick auch schon nach-
denklich auf dem seltsamen Nebeneinander
des Werdens und Vergehens.

Dann kommt das wirkliche Werden
und verlangt von uns, dass wir es in uns
selbst erkennen — nicht mehr nur in
Analogien. Und wir erkennen, dass das
wirkliche Werden keine ruhige, sich selbst
immer analog bleibende Entwicklung ist,
dass das Bild des sich Entwickelnden sich
nicht ähnlich bleibt und nur die Dimen-
sionen ändert. Mit Schauer und Freude
sehen wir, dass das Werden aus Über-
raschungen besteht, die sich in Stürmen
bereiten. Wir stehen staunend vor uns
und begreifen uns nicht mehr — bis wir
uns suchend in unserm neuen Dunkel zu-
rechtgefunden haben. Und das erstemal,
dass wir so erkannt haben: wir sind nicht
nur grösser, stärker, reiner, sondern neu
geworden. — Das ist ein heiliger Moment.

Das ist der Augenblick, von dem ab
die Worte Sinn für uns bekommen.

Aber wir haben nicht nur etwas neu
in uns Gewordenes gesehen; wir haben
auch Dinge gewahrt, die rastlos in uns
vergangen sind. So hat das Werden,
das uns immerhin verwandt däuchte, weil
es sich in alle unsere Zukunftsträume
schlich, uns mit einem Schlage auch das
uns viel fremdere Vergehen enthüllt —
und so hart neben sich, als wäre es nur
eine Seite des Werdens. So mischt sich
hohe Freude mit tiefem Schmerz. Wir
haben etwas vergehen sehen; wir haben
dies Wort, das uns bisher nichts angieng,
begreifen müssen. Und wir leiden darunter.
Die Werde-Freude ist nicht mächtig genug
gegen diesen Feind. —

Weil wir aber so gezwungen unseren
Blick nicht von dem Vergehen wenden
können, so versinkt er langsam bis in die
Tiefe dieses Wortes. Und da findet er
etwas Neues, etwas, das mächtig ist, sein
Leiden zu stillen: Die Einheit von Werden
und Vergehen. Das ist nicht mehr das
Ablösen, das Nebeneinander, wie in des
Menschen knabenhafter Erkenntnis: es ist

die absolute Identität. Und die Tröstung,
die über seine an Welt und Ich ver-
zweifelnde Seele kommt, stammt nicht
daher, dass er das Vergehen als ein
Werden sieht, sondern dass das Werden
seine Zweifel und Qualen verliert, weil es
begriffen wird als ein Vergehen. Denn das
Vergehen, das ruhige Geschehenlassen der
Welt, ist dem Herzen des Aufwärtsringenden
wie durch magische Vertauschung plötzlich
näher gekommen als das kleinere Werden.

Wenn sich so alles Starre im Menschen
löst, wenn er aus dem Wollenden ganz
ein Schauender geworden ist, dann durch-
strömt ihn das All, das ihm einst Einheit
mit sich verheisst. Dann kann er sich
ganz vollenden. Und der höchst gewordene
wird der zum Aufgehen im All reifste
sein.

Und so heisst denn Werden und Ver-
gehen
, beides, nichts anderes als: Än-
lichwerden unserer Seele dem Stoff des
Allgeists. Das aber ist das Ziel aller
geistigen Entwicklung.

In den meisten Stunden unseres Lebens
leben wir das Leben der Worte. Unsere
Seele wird nicht bis zum Grunde aufge-
wühlt. Unsere Seele wäre nicht stark
genug, ein Leben zu ertragen, über das
das berauschende Innere all der Gefässe
ausgegossen wäre. Es würde sie taumeln
machen.

Aber sie würde vernüchtern, wenn sie
nie den Rausch jener Gefässe kostete.

Wahlverwandt muss das Innere der
Seele und des Kelches sein, der vor ihr
steht; dann kann sie den verschlossenen
öffnen. So kommt es, dass nicht alle
Kelche Jedem offen sind. Wer aber ein-
mal schweigend in sich hinabgelauscht
hat, der wird immer in der Stunde des
Schauens den Rausch des Werdens und
Vergehens trinken können. In dem grossen
Einheitsgefühl, in der grossen Gewissheit,
die ihn dann erfassen, beruht alle Intuition,
alle Mystik.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 549, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0549.html)