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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 550

Text

SPIELBEAMTE.
Glosse über den Tiefstand des Burgtheaters.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Es kommt nunmehr im Drama-
tischen
und Theatralischen nicht
eben eigentlich darauf an, »Furcht und
Mitleid« zu erregen, da wir doch im
verwirrenden Gedränge des Heute, das
keinerlei Mitleid kennt, das Fürchten ver-
lernt haben und gegen den Ansturm der
Illusionen, soweit sie nicht aus uns selber
kommen, mit Gleichmuth und Schaalheit
bis zum Ekel gefüllt sind. Vielmehr ist,
was wir wünschen: Mittheilung einer
inneren Anmuth, die uns abhanden ge-
kommen inmitten der Trübnisse des Lebens,
Mittheilung einer psychisch-imaginären Frei-
heit, die das Knochengerüst des homo
sapiens
mit beflügelnder Luft füllt, seine
Alltags-Sapientia wegbläst, die Gicht seiner
Seele tödtet. Was noth thut, ist also:
Von innen her wirkende Freiheit, die
dem längst erstickten Strome des rein
Intuitiven neue Bahnen öffnet und der
drückenden Last des Lebens, die wir so
trüb und träge nehmen, die spielerische
Logik einer Dämmerung aufzwingt. Mit-
theilung jener befreienden Suggestion,
die selbst das Ungefügigste mit intui-
tiver
Macht harmonisch in irgend eine
Anmuth rückt und allenthalben, wie unsere
Zeit befiehlt, zur Beflügelung des Schlep-
penden, Kriechenden, zur Entkörperung
des allzu Gegenständlichen, zur Verseelung
des allzu Materiellen leitet. Endlich: Mit-
theilung jener seelischen Rhythmik, die
durch ihr heimliches Fluctuieren — dem
Sphärenspiel auf abendlichen Feldern ver-
gleichbar — all unser Stehen und Treiben
vom »Ernst des Lebens« befreit, den All-
tag dem Gaukelspiel der Sinne unter-
wirft und also unserem schwerfälligen
Wesen die leichten Fusse der Vögel gibt.

Damit wäre das Theatralische vor
eine social-culturelle Aufgabe gestellt, und
eine Cultur-Mission des Theaters ange-
bahnt, das heute natürlich nicht mehr
als moralische Anstalt fungieren kann,
wohl aber jene höhere Moralität gewähren
könnte, die aus der inneren Anmuth ent-
fetteter Seelen unbewusst erwächst und
mit den Sittlichkeiten der vulgären Ethi-
ken nichts gemein hat.

Und nun halte man diesen Wünschen
die thatsächlichen Bühnenzustände ent-
gegen; man denke namentlich auch an
die »Defectiv-Effecte« des jüngsten Burg-
theaters, dessen Leiter es — mit Laube
zu reden — fast mühelos erreicht hat,
sich selbst »nach zwei bis drei Jahren im
Wesentlichen nur verhasst« und seine Burg
zu einem traurigen Fort Chabrol herab-
gestimmt zu sehen. Wie die Poeten »die
Dichtkunst aus der Welt treiben«, so
sorgen die Bühnenlenker der Gegenwart —
meist ohne ihr Wissen — gründlichst
dafür, dass die latente cultur-ästhetische
Macht ihres fürstlichen Berufes in praxi
nicht entbunden werde. Dem freien Blick
des Feldherrn, der ihnen eignen müsste,
setzen sie — meist ohne Gefühl für den
möglichen Wert ihres Lebens — den
schieläugigen Blick des Kleinkrämers oder,
was trister ist, den literaerisch-verschlei-
erten Blick der »feinempfindenden« Schreib-
tisch-Eule entgegen. Zwar ist es ein Irr-
thum, zu glauben, dass sie zu den drauf-
losgängerischen Thatmenschen gehören
müssten, um ihre Ziele restlos zu er-
reichen; sie dürfen ganz im Gegentheil
den langschädeligen »Träumern« ange-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 550, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0550.html)