Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 553

Spielbeamte Giovanni Segantini (Lindner, AntonPica, Vittorio)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 553

Text

PICA: GIOVANNI SEGANTINI.

Uns fehlen die intuitiven Schauspieler,
die ich erlauchte Gaukler genannt habe. —
Gut.

Ergel bleibt uns — nach wie vor —
das a àiis Phaeacum systemisierte
Metier: vom Alltag gliedweise aufgesogen

zu werden und jener muffigen Beamten-
haftigkeit zu erliegen, die von jeher in
Österreich Philister wie Künstler, Sterb-
liche wie Unsterbliche ohne Würde, doch
in Würden ranzig werden liess.

GIOVANNI SEGANTINI.
Von VITTORIO PICA (Neapel).

Zwischen den Gletschern und Firnen,
wo Segantini weltfern gleich einem
Eremiten voll inbrünstiger Andacht nur
dem Cult seiner Religion, der Kunst,
gelebt, hat ihn dem eifrigsten Schaffen
tückisch der Tod entrafft. Der wandert ja
nun täglich über jene kahlen Höhen, den
letzten Schein blühenden Lebens weg-
hauchend, der sich nur während einiger
kurzer Sommerwochen über die schroffen
Felsketten breitet, die sonst das ganze
Jahr in feierlicher Leichenstarre aufragen.
Indes der Künstler sich in iebevollem Eifer
mühte, die Schauer dieser Gletscher-Ein-
samkeiten in einem Riesen-Panorama fest-
zubannen, nahm ihm der Tod den Pinsel
aus der Hand.

Ungewöhnlich früh reif, offenbarte
Segantini seinen Beruf zum Künstler schon
in den Tagen seiner so abenteuerlich
bewegten ersten Kindheit. Aus dem
Vaterhause durchgebrannt und durch aller-
hand seltsame Umstände zum Schweine-
hirten geworden, versuchte er mit un-
sicherer Hand, die Köpfe seiner grunzenden
Gefährten auf Steinen abzubilden, — wie
es Giotto mit den Schafen gemacht, die
er auf die Weide führte, — aber erst
der Schmerzens-Aufschrei einer trostlosen
Mutter drückte ihm den Stift in die Hand
und trieb ihn zu dem bewussten Versuch,
ein menschliches Antlitz nachzubilden.

Die Neera hat einmal diese Episode
folgendermaßen erzählt: »Wie entstand
in dem phantastischen und unwissenden
Kopfe dieses Kindes, das die Umstände
von jeder intellectuellen Anregung fern-

gehalten, zuerst der Gedanke, in greif-
barer Form die Träume seines Geistes
darzustellen? Er selbst berichtet es in
einem seiner Briefe mit jener wirksamen
Schlichtheit, die ihm eigen ist:

Zum erstenmale, da ich einen Bleistift
in die Hand nahm, geschah es, weil ich eine
Mutter schluchzend sagen hörte: O! hätte
ich wenigstens ein Bild von ihr; sie war
so schön!

Ich kenne, ich finde in all meinen
literarischen Erinnerungen keinen Satz
von intensiverer Kraft der Empfindung,
als diesen, den eine arme Bäuerin
am Sarge ihres todten Kindes ausrief,
den ein Kind in seiner vorahnenden
Seele empfieng. Vom Schmerz einer
Mutter ergriffen, versuchte damals Segan-
tini, mit dem Stift die Züge der Ent-
schlafenen festzuhalten. Was aus dieser
Arbeit geworden und wo sie sich heute
befinden mag, weiss niemand, auch nicht
ihr Schöpfer.«

Die eigentliche malerische Laufbahn
Segantinis begann jedoch erst, nachdem
er eine Zeit lang die Akademie der Mai-
länder Brera besucht hatte, an der er es
übrigens bei seinem rebellischen Unab-
hängigkeitstrieb nicht lange aushielt. An-
fänglich entwarf und malte er eine ganze
Reihe von Genrebildern mit romantischem
Vorwurf, die eitle Periode der künst-
lerischen Unentschiedenheit repräsentieren,
die aber doch schon von einer unge-
wöhnlich mächtigen malerischen Anschau-
ung Zeugnis geben und die ersten Zeichen
der zerlegenden Technik seines späteren
Schaffens aufweisen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 553, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0553.html)