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Und nun kommt der Moment, da er,
mächtig angezogen von dem Leben der
schlichten, kleinen Leute und der schwer-
müthigen lombardischen Landschaft, end-
lich eine persönliche Note findet und
eine ganze Reihe bedeutender Werke
schafft, die uns durch ihre grosse Ehr-
lichkeit und ihre urwüchsige Empfindung
gefangen nehmen. Wie Millet — mit dem
er überhaupt in dieser Periode seines
Schaffens eine gewisse Verwandtschaft
zeigt — hat es Segantini verstanden,
die ernste Poesie im arbeitsvollen Dasein
des Landmanns, die gebietende Grösse
der weiten Ebenen mit ihren braunen,
vom Pflug durchfurchten Schollen, ihren
endlosen Horizonten und ihrer tiefen
Schwermuth in wundersamer Weise zu
erschliessen.
Nachdem er jahrelang aus der lom-
bardischen Tiefebene seine künstlerische
Inspiration geschöpft, entschloss sich Segan-
tini, ins Engadin zu ziehen. Dieser Über-
gang von der Ebene in die Berge hatte
eine dritte Phase seiner Kunst zur Folge,
in der die Alpen zum Leitmotiv seiner
neuen Werke werden: die ungewöhnliche
Klarheit der Luft auf den grossen Höhen
und die blendenden Reflexe der Sonne auf
den Gletschern spornen ihn zu einem
immer intensiveren Studium des Licht-
problems an. Seit jenem ersten Bilde für
den Chor der Kirche Sant’ Antonio trachtete
Segantini — ohne eine Ahnung Dessen,
was inzwischen in Frankreich in dieser
Richtung geschehen war — nach einer
prismatischen Zerlegung der Töne, um
eine vibrierende Lichtwirkung zu erzielen.
In der Folge ist er auf diese instinctiven
ersten Versuche zurückgekommen. Seine
Technik, die von den Meisten streng ver-
urtheilt wird, aber von unleugbarer Wirk-
samkeit ist, schliesst sich zwar im Princip
an die der französischen Pointilisten an,
ist jedoch in der Anwendung sehr ver-
schieden, da sie die bunten Farben-
klümpchen durch vielfarbige Strichelchen
ersetzt, so dass sich die Vermengung der
Farben nur zum Theil auf der Netzhaut
des Beschauers, theilweise aber schon auf
der Leinwand vollzieht.
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Wie innig Segantini jene Alpen geliebt,
deren Abbild er unermüdlich geschaffen,
möge der nachfolgende Auszug aus einem
Briefe erweisen, in dem er mir von dem
Project seines grandiosen Engadin-Pano-
ramas für die nächste Pariser Weltaus-
stellung Mittheilung gemacht:
»Mehr als 14 Jahre sind es her, dass
ich im Hochgebirge nach den Accorden
einer Alpen-Symphonie suche, die, aus
Tönen und Farben zusammengesetzt, all
die verschiedenen Harmonien der hohen
Berge in sich fasst und sie zu einem ein-
zigen vollkommen vereint. Nur wer, wie
ich, im blauen Frühling monatelang auf
den schimmernden Alpentriften gelebt und
den Stimmen gelauscht hat, die aus den
Thälern empordringen, jenen undeutlichen,
abgeschwächten Harmonien, die der Wind
herüberträgt und die um uns eine tönende
Stille schaffen, die sich über den hohen,
weiten, azurnen Raum erstreckt, den am
Horizont die Ketten starrer Gletscher und
felsiger Grate besäumen, vermag die hohe
künstlerische Bedeutung dieser Accorde
zu empfinden und zu verstehen. Ich muss
immer daran denken, welchen Theil an
meinem Geiste jene Harmonien der Formen
und der Linien, der Farben und der Töne
haben, und dass jene Seele, die ihnen ge-
bietet, und jene andere, die sie vernimmt
und schaut, doch nur eine einzige bilden,
dass sie in jenem Verstehen einander
durchdringen und sich ergänzen, in einem
Gefühl leuchtender Harmonie, der ewigen
Harmonie des Hochgebirges. Ich habe
mich stets bemüht, einen Theil jenes
Gefühls in meinen Bildern zum Ausdruck
zu bringen; da aber — aus verschiedenen
Gründen — so Wenige dies fühlen und
verstehen, glaube ich, dass unsere Kunst
eine unvollkommene ist, die nur Einzeln-
heiten der Schönheit darstellt, nicht aber
die ganze harmonische, lebendige Schön-
heit, die die Natur belebt. Darum habe
ich daran gedacht, ein grosses Werk zu
schaffen, gleichsam eine Synthese, in das
ich jenes ganze, starke Gefühl der Har-
monie des Hochgebirgs hineinzulegen ver-
möchte, und das Ober-Engadin zum Vor-
wurf gewählt, weil ich das am genauesten
studiert habe und weil es von allen
Gegenden, die ich kenne, am reichsten
an Schönheit und Abwechslung ist. Da
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