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verschmelzen die felsigen Joche und die
ewigen Gletscher mit dem zarten Grün
der Triften und dem tiefen Grün der
Tannenwälder, und der blaue Himmel
spiegelt sich in kleinen Seen, die noch
hundertmal blauer sind als der Himmel.
Die freien, üppigen Weiden sind aller-
wärts von krystall’nen Wasseradern durch-
zogen, die in den Felsrissen thalwärts
rinnen, um auf ihrem Wege alles zu er-
quicken und zu beleben; überall blühen
Alpenrosen, und alles ist voller Har-
monie vom Zwitschern der Vögel
bis zum fröhlichen Trällern der Lerchen,
vom Murmeln der Quellen bis zum Läuten
der verstreuten Herden, ja bis zum
Gesurr der Bienen.«
Nahezu alle neueren Werke Segantinis
weisen auf den neuen Curs hin, den ihr
Schöpfer in den letzten Jahren genommen,
auf den Symbolismus. So namentlich die
drei Zeichnungen: »Schlechte Mütter«,
»Die Wohllüstigen« und »Der Engel des
Lebens«, ferner die drei Bilder, die vor
zwei Jahren in Florenz zur Ausstellung
kamen, und vor denen sich die Mehrzahl
des Publicums verblüfft in schlechten
Witzen ergieng. Das grösste dieser drei
Bilder: »Der Schmerz, vom Glauben ge-
tröstet«, ist von gebietender und feier-
licher Grösse in seiner innigen Schlicht-
heit. Der Entwurf dieser in seiner Un-
mittelbarkeit so wirksamen Schöpfung
beweist deutlich, dass Segantini die Gabe
poetischer Suggestion im hohen Grade be-
sessen und dass er, wenn er Symboli-
stisches schuf, nicht diesem oder jenem
ausländischen Beispiel folgte, sondern
einem gebieterischen Drange seiner Seele.
Von noch erlesenerem Symbolismus ist
sein anderes Bild: »Die Liebe an der
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Quelle des Lebens«, das durch die Eleganz
der Linien und durch die leuchtende
Harmonie der klaren, lebenden Farben
die anmuthigste Wirkung übt. Sein
drittes Bild: »Die Frucht der Liebe«,
auf dem die weibliche Gestalt mit ihrer
natürlichen Grazie in Haltung und Geberde
und dem tief schwermüthigen Ausdruck
in den Zügen prächtig gerathen ist, gibt
uns eine tiefsinnige Verherrlichung der
Mutterliebe.
In seiner Vielseitigkeit und Frucht-
barkeit — er dürfte über 200 Bilder in Öl
und Pastell, Sepia und Kreide hinterlassen
haben — in seinem nimmer rastenden
Streben nach Entwicklung, seinem uner-
müdlichen Suchen nach neuen und wirk-
sameren Ausdrucksmitteln war Segantini
der Grössten Einer und zweifellos der
Interessanteste und Eigenartigste unter
den modernen Italienern. Aber während
er im Ausland rückhaltsloseste Anerkennung
fand, den grössten Meistern an die Seite
gestellt und mit Ehrenzeichen überhäuft
wurde, stiessen seine Werke in der Heimat
— wohl gerade um ihrer revolutionären,
neuartigen Technik willen — auf den
heftigsten Widerspruch und wurden von
Publicum und Kritik unwillig abgelehnt,
häufig sogar verlacht. Vermuthlich war
es eine Folge dieser hostilen Aufnahme,
dass Segantini sich an der diesjährigen
internationalen Kunstausstellung in Venedig
überhaupt nicht betheiligte. Vielleicht bringt
aber sein jäher und frühzeitiger Tod —
er war am 15. Jänner 1858 zu Arco in
Südtirol geboren, demnach kaum 42 Jahre
alt — den Italienern die Grösse des Ver-
lustes für ihre heimatliche Kunst und Das
zum Bewusstsein, was sie in eigensinniger
Verblendung an Segantini gesündigt.
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