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Der Glaube an die Gewalt des »bösen
Blickes« war in früherer Zeit bei fast allen
Völkern verbreitet und lebt auch in der
Gegenwart noch in einzelnen Ländern,
insbesondere in Italien, fort. Wer Italien
bereist, wird häufig in Volkskreisen Er-
zählungen über unheilbringende »Gettatori«
— so werden die mit dem »bösen Blick«
Begabten genannt — hören. Merkwürdiger-
weise geht dieser Volksaberglaube soweit,
dass auch moralisch hochstehende Menschen
und Persönlichkeiten, die infolge ihres Be-
rufes die höchste Achtung beim Volke ge-
niessen sollten, ja sogar Kirchenfürsten, als
»Gettatori« gefürchtet und geflohen werden.
Sowohl Pius IX. wie Cardinal Lavi-
gerie hatten unter diesem Volkswahn zu
leiden. Diesbezüglich erzählt M. Well-
mann folgende sonderbare Begebenheit, die
er bei seinem Aufenthalte in Rom erfahren
hat:
Pius IX. begab sich am 8. December 1867
am Feste der Unbefleckten Empfängnis
Maria in die Kirche dei Santi Apostoli. Es
war einige Wochen nach der Schlacht von
Mentana vor den Thoren Roms, und die
Anhänger des Papstes wollten an jenem
Feste eine Demonstration zu seinen Gunsten
veranstalten, da in Rom die Lage be-
denklich war. Als der Papst aus seinem
vierspännigen Wagen stieg, schwenkten
mehrere Personen in seiner Nähe höchst
augenfällig Hüte und Tücher und schrien
aus voller Brust: »Evviva Pio Nono«.
Ich wunderte mich über diesen Empfang,
denn ich hatte in den letzten Wochen
stets in Rom gehört, der Papst sei sehr
unbeliebt bei dem römischen Volke, be-
sonders weil er die französischen Truppen
gegen Garibaldi zu Hilfe gerufen. Ein
hochgestellter französischer Würdenträger,
dem ich mein Erstaunen darüber aus-
sprach, wunderte sich aber über meine
deutsche Naivetät und belehrte mich
über die ihm von Paris her gut bekannte
Thatsache des »payer et faire l’opinion et
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les demonstrations publiques«. Einige
Tage später las ich in einer englischen
Zeitung, gerade an jenem 8. December
seien an der Kirchenthüre dei Santi Apostoli
einige Individuen verhaftet worden, welche
in sehr auffälliger Weise dem Papste den
Zeige- und kleinen Finger entgegengestreckt
hatten, als er, nach beiden Seiten hin mit
der Hand Segen spendend, in die Kirche
eingezogen. Das Ausstrecken des zweiten
und fünften Fingers gilt nämlich als ein
Hilfs- und Schutzmittel gegen den »bösen
Blick«, und vielfach werden kleine Korallen-
hände, in dieser Positur geschnitten, ver-
kauft und als Präservativ gegen die dunkle
Macht des »bösen Blickes« an der Uhr oder
am Armband als Breloque getragen.
Merkwürdig und bezeichnend für die
Verbreitung des Glaubens in die Zauber-
kraft Pius IX. ist auch noch die That-
sache, dass man den plötzlichen Tod des
österreichischen Botschafters Grafen Crivelli,
der im Frühjahr 1868 nach Rom kam
und sich der päpstlichen Gunst nicht
erfreut haben soll, mit letzterem Umstände
in Verbindung brachte. Man wies darauf
hin, dass der Graf in auffälliger Weise,
obschon bereits wochenlang in Rom, fort-
während die Überreichung seiner Creditive
verschob. Am Morgen nach seiner Auf-
fahrt im Vatican, als er seinen gewohnten
Spazierritt gegen die Villa Borghese
hin unternahm, sank er an der Stadt-
mauer vom Pferde, vom Schlage gerührt
— infolge des »Mal’ occhio« des »Gettatore
Pio Nono«, sagten die Abergläubischen.
Ähnliche Nachrede musste der Papst er-
dulden, als der Cardinal d’Andreac im
Frühjahr von Neapel nach Rom kam, um
sich mit ihm wieder zu versöhnen. Pio
Nono soll demselben, angeblich wegen
seiner politischen Richtung, nicht sehr
gewogen gewesen sein, und, man sagte,
dass die Feindschaft zwischen den beiden
Kirchenfürsten auch durch diesen Ver-
söhnungsversuch nicht ganz gehoben
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