Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 559

Im Zeichen des Zwiespalts (Esswein, Hermann)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 559

Text

BÜCHER.

Im Zeichen des Zwiespalts. —
In einer Übergangszeit leben wir, die sich
romantischer, gährender anlässt, als je
eine vordem. Die Leiche der demokratisch-
humanen christlichen Weltanschauung ver-
pestet die Luft, die, von Fiebermiasmen
schwanger, unsere Denker hohläugig und
unsere Dichter früh alt macht. Wir
haben weder den grossen Philosophen,
der uns noth thut, noch den grossen
Künstler, der das befreiende, erlösende
Wort fände; wir sind allesammt Sehn-
süchtige, Romantiker, denn wir reden nur
immer von dem Werke, ohne die Kraft
zu haben, es zu thun. Wir sind sehr
müde von dem schier aussichtslosen Ringen
und sehr trostbedürftig. Deshalb ist unsere
Literatur so persönlich, so subjectiv bis
zum Äussersten, so ganz Selbstbespiege-
lung, ganz Confession, Beichte. Denn jede
Beichte geschieht aus dem Verlangen
nach Trost, nach Erlösung. Durch unser
gesammtes Schriftthum geht ein Schrei
nach Erlösung von der Halbheit. Indivi-
dualitäten aus einem Gusse sind höchst
rar geworden. Künstlich, mit dem Verstande
muss sich der moderne Dichter eine
Grenze construieren, sich einen Fetisch
aufrichten, um schaffen zu können; künst-
lich, aus dem Gefühle und der sub-
jectiven Stimmung heraus muss der
moderne Denker die Möglichkeit ge-
winnen, mehr zu geben, als laugenscharfe
Analysis. Hier liegt der Zwiespalt, den
nicht einmal unsere Besten zu überbrücken
vermocht, Nietzsche so wenig als irgend
ein Anderer. Hier haben wir auch das-
jenige Moment zu suchen, auf das es bei
der Wertung eines jeden modernen Geistes-
erzeugnisses vor allem ankommt.

Nach dieser Richtung hin interessant und
bedeutsam erscheint mir eine kleine, elegante
Schrift: »Mensch und Dichter« von
F. Leppmann. (Verlag J. Sassenbach,
Berlin-Paris.)

Sie ist, wie jedes echt moderne Geistes-
erzeugnis, entstanden im Zeichen des
Zwiespalts, aus dem Streite zweier sehr

heterogenen Dinge, aus unbewusst-schaf-
fendem Künstlerthum und aus jenem
zerfasernden, rastlosen Erkenntnisdrange
des modernen Denkers, des geistigen
Nachkommen Schopenhauers und Nietz-
sches. Auch sie ist ein Selbstbekenntnis,
eine Beichte, ein Schrei nach Trost. Sehen
wir näher zu:

Der verwahrloste Zustand unserer Kritik,
der wahrhaft jämmerliche Schlendrian in
unserer Tagesliteratur, in unserem litera-
rischen Zeitschriftenwesen reizten den
Verfasser zum Proteste und führten ihn
dazu, vom Essaiisten — Künstler-
schaft zu verlangen. Leppmanns Aus-
führungen gipfeln in dem Postulate: »Ich
fordere etwas mehr Kunst und Künstler.
Ich fordere weniger psychologisch-secie-
rendes Erkennen und mehr intuitives
Erfassen.«

Wie kommt er, abgesehen von dem
obenerwähnten äusseren Anstoss, zu dieser
Forderung? Antwort: Aus der für ihn, und
ich erdreiste mich zu behaupten: für
jeden Sehenden und Denkenden unan-
fechtbaren Thatsache der unauflöslichen
Einheit von Mensch und Dichter. Ihm ist
der Künstlermensch ein Stück Natur, ja
das interessanteste und wertvollste Stück
in dem ganzen grossen Schwalle der
Daseinsformen, die Uns Probleme sind.

Uns schrieb ich gross und dachte
dabei an Jeden, dem das Leben nicht
schlechtweg Factum ist. »Euch ist das
Leben Factum, mir Problem!« sagte
einmal Hermann Conradi.

Ein Problem rein subjectiv lösen,
intuitiv den Sinn einer Erscheinung er-
fassen, ihre Beziehung auf das Ewige
aufdecken, das heisst Künstler sein. Zola
nennt das »voir à travers d’un tempéra-
ment«. Der Verfasser von »Mensch und
Dichter« behauptet und beweist nun:
»Wir vermögen eine geistesgeschichtliche
Epoche, eine Dichter-Persönlichkeit nicht
anders als durch unser Temperament zu
sehen.« Aus diesem Beweise gewinnt er
seine Folgerung und seine Forderung.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 559, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0559.html)