Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 560

Im Zeichen des Zwiespalts Hofoper: »Vergissmeinnicht« (Esswein, HermannGraf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 560

Text

THEATER.

Wie aber wird nun der Beweis dafür er-
bracht, dass Mensch und Dichter eine
unzertrennbare Einheit bilden, und dass
eine rein objective, absolut richtige Wertung
in literarischen Dingen unmöglich sei?
Bezeichnenderweise mit den Mitteln der
Logik und der modern-wissenschaftlichen
Psychologie, der Psychologie sans âme!
Welch rührendes Eingeständnis, welche
Beichte enthält dieser Zug von Selbst-
negierung! Leppmann postuliert Künstler-
thum auf Grund einer ausgesprochen
unkünstlerischen, rein logischen, psycho-
logischen Gedankenarbeit. Auf ihn, wie
auf jeden Modernen, passt somit das
Gleichnis von jenem Manne, der den Ast
absägte, auf dem er selber sass.

Dies ist die tiefere Bedeutung des
Schriftchens: Der Verfasser beichtet, ge-
steht ein, dass auch sein Geist im Zeichen
des Zwiespalts steht, dass weder völlig
im Immanenten befangenes, kühlwissen-

schaftliches Denken seine Sache ist, noch
intuitives, unbewusst schaffendes Künstler-
thum. Ungetrübte, volle Künstlerschaft ist
seine grosse Sehnsucht, aber gelähmt von
romantischem Erkenntnisdrange redet auch
er nur von dem Werke, ohne es zu
schaffen. Denn eine Verschmelzung, ein
restloses Ineinanderaufgehen von Künstler-
thum und Denkerthum, eine Versöhnung
von Können und Erkennen gibt seine
Schrift »Mensch und Dichter« noch nicht.
Sie ist kein »Essai als Kunstwerk«, son-
dern im Hinblick auf die lyrische Ein-
leitung und die gleichfalls lyrische Schluss-
vignette Essai und Kunstwerk, keine Ein-
heit, sondern ein Nebeneinander. Einleitung
und Schluss könnten ruhig fehlen, ohne
dass dadurch die Schrift an Wert ver-
löre. Das beweist, dass der Verfasser dem
Ideale, das ihm vorschwebt, einstweilen
noch ferne ist.

HERMANN ESSWEIN.

THEATER.

Hofoper. — Über die letzte Ballet-
Première — »Vergissmeinnicht«,
Musik von irgend einem Prager Herrn,
Text von irgend einem Wiener Herrn —
ist kein Wort zu verlieren. Man fragt
sich erstaunt, was dieser getanzte Unsinn
bedeuten soll, wo doch alle Elemente zu
einem interessanten, modernen Ballete
in der Luft liegen. Seitdem man die
Barrison-Lieder, die italienischen Canzonen,
die neuen französischen Lieder in Wien
kennt, weiss man auch in Wien, was
für eine Fülle neuer, pikanter, geistreicher

Rhythmen in der Tanzmusik möglich ist.
Englische Tänzerinnen, die Barrisons, die
Saharet, selbst Bilder der neuen decora-
tiven Meister, das moderne Placat, die
Arabesken am Secessionshaus, jedes
Variété und jedes Strasseneck zeigen neue
originelle Tanzmotive. Haben die Ballet-
Fabrikanten keine Augen und Ohren?
Müssen es denn ewig dieselben Sprünge,
Verdrehungen, Pirouetten sein? Und ewig
dieselben Manège-Melodien, die doch
höchstens auf Circuspferde stimulierend
wirken können?

M. G.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. —Verantwortlicher Redacteur:
Constantin Christomanos.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 560, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0560.html)