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der mich gepackt, es nicht so genau ge-
nommen, und vielleicht gehörte auch er im
Herzen der Partei der empörten Patrioten
an. Wie dem auch sein mag, ich blieb
bis 1 Uhr nachts mit 150 Manifestanten
ohne Licht eingeschlossen. Wir wurden
so — einige Wagner-Fanatiker — irrthüm-
licherweise unter die Freunde Déroulèdes
gemischt. Dabei hörten wir über uns durch
ihre Bretter den Lärm des Orchesters, das
im Saale weiterspielte, fiengen wieder an,
uns zu streiten und im Dunkeln zu schlagen.
An jenem Tage lernte ich die Ohnmacht
der Überzeugungen kennen!
Die Vorstellung war ein Triumph.
Nach drei oder vier Tagen konnte die
Polizei sich aus der Umgebung des Theaters
zurückziehen. Die Manifestanten ver-
zichteten darauf, einen so auffallenden
Erfolg mit ihrem Hass zu verfolgen. Es
war ihr letzter Versuch. Jetzt nahm »Tann-
häuser« ohne Hindernis seine triumphierende
Revanche für die unter dem zweiten
Kaiserreich erregte Kabale; die »Walküre«
war ein großer Erfolg, die »Meistersinger«
verblüfften das Publicum durch ihre un-
geheure Komik, und augenblicklich con-
statiert man, dass diese vier Werke
Wagners jedesmal, wenn man sie spielt,
die größten Einnahmen an der Großen
Oper erzielen. Wir sind von den Lärm-
scenen und Prügeleien vor 8 oder 10 Jahren
weit entfernt. Übrigens muss man con-
statieren, dass die von den Chauvinisten er-
regte Opposition vollständig verschwunden
ist, denn Mottl, Richter und Nikisch
haben selbst die Colonne-Concerte mit
großem Erfolge dirigiert, und das Publicum
hat den Damen Materna, Mottl,
Lehmann und anderen Wagner-Sänger-
innen große Ovationen bereitet. Die In-
telligenz und die Kunst haben also ihre
vollständige Revanche erhalten.
Ich schreibe diese vollständige Ver-
änderung, die sich in fünf oder sechs Jahren
vollzog, mehreren Ursachen zu, die ich
hier erwähnen will.
Erstens: dem Eifer Lamoureux’, Pro-
selyten zu werben, der unglaublich ist.
Er hat die aufregende Leitung seiner
Concerte bereits vor drei Jahren nieder-
gelegt und seinem Schwiegersohn Camille
Chevillard anvertraut, als er wieder
aufs neue erwachte und sein Alter und
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seine Kräfte überanstrengte, um die zehn
wunderbaren Vorstellungen des »Tristan«
herauszubringen, die er den Parisern eben
vorführt.
Sodann: dem beständigen Einfluss der
Schüler César Francks, die heute eine
hervorragende Stellung unter den Sym-
phonikern einnehmen und nie aufgehört
haben, für Wagner Propaganda zu machen,
sowie aller Bayreuth getreuen Schriftsteller
und Literaten. Ich will hinzufügen, dass
sich der Geschmack für die fremde Kunst
und die fremden Ideen in Frankreich
seit einigen Jahren unglaublich vermehrt
hat. Unter den unzähligen, von Wagner
inspirierten Schriften muss man vor allen
Dingen die von H. S. Chamberlain
und Alfred Ernst nennen, denn sie haben
kräftig zur Aufklärung der Kritik und
des französischen Publicums beigetragen;
neben ihnen wurden wirksame Zeitungs-
artikel verfasst, unter anderen jene, die
der Kritiker Henri Bauer mehrere Jahre
hindurch veröffentlichte.
Der mächtige Feldzug, den das Théâtre
libre, dann »L’Oeuvre« unternahmen, um
die fremden dramatischen Werke vorzu-
führen, hat ferner dazu beigetragen, das
Publicum an symbolische Werke philo-
sophischen Charakters zu gewöhnen. Im
Grunde genommen sind die Kämpfe, ab-
gesehen von jedem Patriotismus, bei der
»Wildente« ebenso lebhaft gewesen
wie beim »Tristan«. Zum endlichen
Erfolge hat schließlich auch die gesammte
Entwicklung einer ganzen Generation
beigetragen, die ebensowohl von Ibsen
wie von Wagner und von den englischen
Präraphaeliten dem Symbolismus und
dem Idealismus zugeführt wurde. Die
französischen Decadenten und Symbolisten
haben den intelligenten, jedes Jahr be-
deutender werdenden Kern des Concert-
publicums gebildet. Muss ich noch er-
wähnen, dass von allen vorhergegangenen
Antipathien des Publicums gegen das
Schaffen Wagners die einzige, die übrig
geblieben ist, der Symbolismus ist? Eine
französische Majorität wird dieses Kunst-
princip, in der es nicht athmen kann, nie
zugeben. Es war bedauerlich, dass die
Concerte keine vollständigen Werke
Wagners vorführten, sondern nur Torsi
und aus dem Zusammenhang gerissene
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