Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 17

Die Kaiserin Richard Wagner und das französische Publicum (Khnopff, FernandMauclair, Camille)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 17

Text

MAUCLAIR: WAGNER UND DAS FRANZÖSISCHE PUBLICUM.

Stücke; doch muss man auch sagen, dass
dieses große Übel eine große Wohlthat
war; denn durch die Symphonie hat sich
Wagner beim großen Publicum Geltung
verschafft. Durch die Klangfülle, durch die
leidenschaftliche und nervöse Haltung seines
Genies, den verwirrenden Magnetismus
seines Timbre hat er seiner Magie zum
Triumphe verholfen. Ein französisches
Publicum hätte die Tetralogie nie mit
einem Schlage aufgenommen. Es bedurfte
langer Vorbereitungen, um sich mit den
Figuren, den Ideen und den scenischen
Neuerungen Wagners vertraut zu machen.
Erst jetzt wäre das Pariser Publicum im-
stande, eine Aufführung der Tetralogie
anzusehen. Es bliebe auch jetzt noch
über gewisse allegorische Stellen verblüfft,
die nur einzig und allein den Germanen
verständlich werden. Einen ebenso heftigen
Widerwillen zeigte es gegen die Bilder
von Burne Jones oder Rossetti und
gegen gewisse Werke von Ibsen, wie
z. B. »Brand«. Das ist eine Rassenfrage,
und die Wagner bereitete Opposition hat
nichts Persönliches an sich. Der gegen
Ibsen geführte Feldzug ist ebenso lebhaft
gewesen, und wäre Ibsen ein Deutscher ge-
wesen, hätte er auf Frankreich geschimpft,
und wäre er dem officiellen französischen
Staats-Theater von seinen Anhängern und
Bewunderern aufgedrängt worden, so hätte
er genau denselben Lärm entfesselt. Bis
auf die symbolischen Theile seines Werkes
ist also in Wagner nichts, was den
Franzosen ganz besonders antipathisch
wäre.

Man hat diese symbolischen Stellen
heute verstanden, wenn man sie auch
nicht liebt, und die erhabene symphonische
Schrift, die sie ergänzt und umgestaltet,
hat das ganze Paris der Concerte vollends
mit Bewunderung erfüllt. Wagner gehört
von jetzt ab zu den Lieblingen unseres
für nervöse Musik schwärmenden Publicums.
Es gibt kein classisches Concert ohne ihn.
Es ist noch mehr die raffinierte Sensi-
bilität als die Ideologie, die ihm Frank-
reich zugeführt und versöhnend zwischen
ihm und dem Pariser Geist gewirkt hat.
Im wilden Trubel der Polemiken hat das
Publicum jedesmal, wenn man ihm die
neuen symphonischen Schönheiten des
musikalischen Wagnerismus gezeigt hat,

sie zu schätzen sich bemüht, und es ist
ihm dies gelungen. Jedesmal, da man
versucht hat, es in die Bahnen des literari-
schen Wagnerismus hineinzuziehen und zu
den Theorien über die Metaphysik und
die Allegorie zu bekehren, hat es sich
geweigert, diesen Weg zu betreten. Viel-
leicht hat es nicht ganz und gar Unrecht
gehabt, denn alles in allem ist vor der
Literatur die Musik der große Leitfaden
in diesem wunderbar vielfältigen Werke,
und gerade sie drückt die große mensch-
liche und unsterbliche Seite desselben aus.
Dem Gelehrten macht es Vergnügen, zu
wissen, inwiefern die Tetralogie von der
Edda abweicht, wer Freja eigentlich ist,
oder inwiefern das Tristan-Duett die Schopen-
hauer’schen Ideen über die Anziehungs-
kraft des Todes in der Liebe ausdrückt.
Doch man braucht von der Edda und der
Metaphysik nichts zu wissen; man wird
immer beim Leichenbegängnis Siegfrieds
oder bei dem englischen Hornsolo schaudern,
das den letzten Act des »Tristan« er-
öffnet und seine endlose Klage erhebt.
Das Vorspiel zum »Parsifal« ist geeignet,
Wesen, die nie ein Buch aufgeschlagen
haben, Thränen der Rührung zu entlocken.
Die Menge misstraut instinctiv, sobald sie
fühlt, dass sie einem großen Genie gegen-
übersteht, allem, was ein Werk specia-
lisieren und datieren kann. Darum in-
teressiert der deutsche Theil Wagners, der
fast ganz von den Nibelungen und dem
ursprünglichen Symbolismus stammt, ein
fremdes Publicum fast gar nicht. Dieses
behält nur die universellen Emotionen, die
Leidenschaften. Was kümmert es sich
um die archäologischen Ursprünge Brün-
hildens oder Siegfrieds? Die Erklärungen
Frickas oder Wotans langweilen es. Es
sieht darin nur einen Helden-Typus und
einen Jungfrauen-Typus, und man kann
sagen, dass das Publicum der Concerte
und Theater Wagner wunderbar verstanden
hat. Es hat ihn denationalisiert und das
ganze Gelehrsamkeitsgepäck beiseite ge-
lassen, zur großen Verzweiflung der Kritiker,
um einen großen Meister der nicht an
die Zeitalter gebundenen Leidenschaft
aus ihm zu machen. Ich glaube fest, dass
es so den wagnerischen Geist weit mehr
verstanden hat als den Buchstaben,
und dass der wunderbare Lyriker, der in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 17, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0017.html)