Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 18

Die Kaiserin Richard Wagner und das französische Publicum Die Naturheilbewegung (Khnopff, FernandMauclair, CamilleWachtelborn, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 18

Text

WACHTELBORN: DIE NATURHEILBEWEGUNG.

Wahnfried schlummert, nichts anderes
wünschte. Eine letzte, meine These unter-
stützende Beobachtung soll mir als Schluss-
folgerung dienen. Die »Meistersinger« sind
ein tief deutsches Werk, ebenso wie das
legendäre Drama der Tetralogie, ent-
halten aber keine Symbole. Nun, das
französische Publicum bejubelt sie und
verirrt sich keinen Augenblick darin. Es
ist also nicht die Eigenschaft der Sitten,
der Komik oder des deutschen Stils, was
sie im »Ring« zurückstoßen könnte. Es
ist der Symbolismus an sich selbst und

als ästhetische Methode. Nun aber gibt es
nie eine Meinungsverschiedenheit über eine
Methode, sondern nur über die Emotion,
die das Verständnis eines Werkes hindert.
Und es gibt von nun an keine Schranke
mehr zwischen dem Genie Wagners und
dem französischen Publicum, die Emotion
kommt ungehindert zum Durchbruch und
die Discussionen verschwinden nach und
nach im Schatten; sie werden in den Rang
kritischer Curiositäten zurückgedrängt,
während das Licht des neuen Sternes
über der Welt erstrahlt.

DIE NATURHEILBEWEGUNG.
IHRE BEDEUTUNG UND IHR EINFLUSS AUF CULTUR UND SEELENLEBEN.
Von CARL WACHTELBORN (Fürstenwalde, Spree).

Man mag über des Menschen Ver-
gangenheit, über seine Entstehung denken,
wie man will, — es bleibt über jeden
Streit und Zweifel erhaben, dass er einst
zur Natur und dem, was dieser zugrunde
liegt, in einem innigeren Verhältnis stand
als jetzt. Die Natur war sein Reich, in
dem er lebte und wirkte; sie war sein
Regiment und sein Gesetz.

Gibt es denn aber überhaupt in der
Natur ein Gesetz, einen Willen, eine
herrschende Kraft? Gewiss. Versuche der
Mensch doch die in ihm thätigen Kräfte
zu hemmen durch seinen Willen, das,
was vom Anbeginn an, Zelle um Zelle,
den Aufbau seines Körpers leitete, selbst
zu lenken. Er kann es nicht. Die Natur
vielmehr ist und bleibt seine Herrin. Von
ihr, der großen Lenkerin des Lebens und
der Welten, wird auch er durch die
Schöpfung getragen — und er kann nicht
anders als: sich ihr willig fügen.

Der Mensch fügte sich ihr einst; er
lebte naturgemäß, weil ihm erstens die
beständige Erfahrung sagte, dass das
Naturgesetz gut ist, und er so gar keinen
Grund hatte, dagegen zu fehlen; zweitens,
weil die Stimme der Natur noch klar
und deutlich in ihm sprach; denn sein
Sinn war noch rein, noch nicht von

unseren heutigen Dingen, von Opern und
Theatern, Zeitungen und Bauten, Cigarren
und Champagner, Eisenbahnen und Tele-
graphen, Polizei und Militär, Politik,
Steuern u. s. w. erfüllt, und so fand
denn der Natur geheime innere Sprache,
Instinct und Gewissen in seinem Be-
wusstsein ungetheiltes, willfähriges Gehör;
drittens aber lebte er naturgemäß, weil
er musste.

Das Naturgesetz fordert, dass sich der
Mensch Bewegung mache, dass er reine
Luft athme, die Haut pflege, Licht- und
Luftcultur treibe, natürliche Nahrung ge-
nieße u. s. w. Nun, er musste sich
bewegen, um sich Nahrung zu verschaffen,
um sich seiner Feinde zu erwehren —
und noch aus den verschiedensten anderen
Gründen; er musste reine Luft athmen,
da er immer im Freien war, und durch
seine Arbeiten und Kämpfe wurde er
wohl auch oft genug zum nicht minder
wichtigen Tiefathmen gezwungen; er
musste Hautcultus treiben, weil die
Röcke aus Fellen, die Schürzen aus
Feigenblättern, die er einst trug, Licht
und Luft sicher genug zum Körper ge-
langen ließen. Essen und trinken jedoch
konnte er auch nichts weiter, als was
ihm seine Scholle im natürlichen Zustande

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 18, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0018.html)