Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 19

Die Kaiserin Die Naturheilbewegung (Khnopff, FernandWachtelborn, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 19

Text

WACHTELBORN: DIE NATURHEILBEWEGUNG.

bot. So lebte der Mensch einst innerlich
und äußerlich in harmonischer Weise mit
der Natur und dem Einen Gesetz. Infolge-
dessen herrschte Harmonie in ihm selber;
denn es ist nur eine Natur, nur ein Gesetz,
nur eine Kraft, die alles bewirkt, und
diese selbst ist Harmonie. Sie schließt
alles in sich; was könnte ihr fehlen, was
könnte sie unharmonisch gestalten? Wo
sie ungehemmt wirkt, ist darum ihr Werk
auch harmonisch. Gesundheit, Kraft,
Größe und Schönheit waren deshalb
einst der Besitz des naturgemäß lebenden
Menschen; groß, edel, natürlich waren
seine Gedanken.

Wir wundern uns heute über die
Werke der Alten, über ihre mächtigen
Bauten und ihre hoch entwickelten Künste.
Die Natur, das seines Schöpfers, des gött-
lichen Meisters würdige Werk, spricht
aber sehr deutlich, wenn wir nur rechten
Verkehr mit ihr pflegen. Ihr lagen lernend
die einstigen Menschen zu Füßen, und
also waren sie dann imstande, ihre Ge-
danken in That zu übertragen, ihre
staunenerregenden Werke zu gestalten,
weil sie stärker und größer waren als wir,
stärker und größer in dem Maße, als ihre
Werke über den unseren stehen; größer
aber nicht bloß an Körper, sondern auch
an Seele, — allerdings nicht an Verstand,
denn hier sind wir ihnen überlegen, größer
aber an Gemüth und an jener Kraft, die
empfindet und Gedanken erfasst. Die
Menschen hatten einst große, empfindungs-
fähige, gemüthstiefe Seelen und deshalb
entwickelten sie auch große Gedanken;
die erhabene Größe, die natürliche Schön-
heit vor allem ist es eben, die wir an
ihren Bauten bewundern.

Dass die Menschen — wie uns ihre
Bauten verrathen — körperlich einst um
vieles größer waren, will uns allerdings
nicht recht in den Sinn. Lassen wir aber
einmal ihre Bauten, ihre Pyramiden,
Tempel u. s. w. außer Betracht. Hätten
sie wohl einst allen ihren Standbildern
eine Größe von 9 Metern gegeben, wie
wir es aus Alt-Amerika wissen, wenn sie
selbst nicht größer gewesen wären als wir?
Sicherlich nicht. Die Menschen waren
einst groß und darum hieben sie auch
ihre Bilder in entsprechender Größe in
Stein.

Der Mensch muss aber einst größer
gewesen sein an Leib und an Seele, denn
er ist ein Theil jener einen und einzigen,
jener wesentlichen und allgegenwärtigen
Kraft, die allem Gewordenen zugrunde
liegt und der auch der Mensch ent-
sprungen ist. Je inniger er mit dieser in
harmonischem Wirken steht, umso größer
muss er darum auch sein an Leib und
an Seele.

Aber der Mensch lernte beobachten,
denken, erkennen; er erkannte, dass er
einen freien Willen besitze, dass er selbst
thun könne, was er wolle, und er machte
von seinem freien Willen Gebrauch. Damit
war er der Verirrung verfallen; denn das
Leben wirkt von innen nach außen, und
also ist auch der Sinn des Menschen ge-
meinhin nur nach außen gerichtet. Weil
der Mensch aber die Natur nur im
Äußeren verfolgte, nur auf die Er-
scheinungen seine Gedanken richtete,
musste er schließlich notwendigerweise
den Zusammenhang mit dem Großen
und Ganzen verlieren und irren, wenn er
auch mittel- oder unmittelbar im Ein-
zelnen vielfach das Richtige fand. Seine
Arbeit sei geehrt. Aber ihm entschwand bei
seinem Suchen und Forschen, Denken und
Handeln mehr und mehr die Erkenntnis
vom Grunde der Dinge, die Erkenntnis
seiner selbst und der ewigen Gesetze.
Irrthum war die nothwendige Folge, denn
je mehr sich der Mensch in und mit den
Erscheinungen vom Ganzen entfernte,
umso dunkler wurde ihm der Grund und
der innere Zusammenhang der natür-
lichsten Dinge. »Der Mensch aß vom
verbotenen Apfel«, und weil er das gött-
liche Gebot übertrat, wurde er aus dem
Paradies vertrieben, das heißt: mit der
Harmonie zwischen ihm und der Natur
und ihren ewigen Gesetzen gieng auch
die Harmonie in ihm selber verloren,
seine Reinheit und Ursprünglichkeit, seine
Kraft, Schönheit, Gesundheit und Größe.

Heute weiß der Mensch nicht mehr,
wie er sich ernähren, wie er sich kleiden,
wie er sich in Krankheitsfällen behandeln,
wie er über sich und die lebendige Ein-
heit der Dinge denken soll. Die wider-
streitendsten Ansichten finden wir auf
allen Gebieten; Krankheit aber, Siech-
thum, Schwäche, Noth und Elend aller-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 19, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0019.html)