Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 51

Carl Pawlowitsch Brjulów* (Ephron, Jefim)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 51

Text

KUNST.

KARL PAWLOWITSCH BRJULÓW. Zu
seinem hundertsten Geburtstage
.
— Fast unerklärlich ist die Thatsache,
dass man die Maler und überhaupt die
bildenden Künstler Russlands im übrigen
Europa nicht kennt. Zwei russische Maler
bilden eine Ausnahme: es sind dies
Wereschtschagin und Rjepin; der
erste durch die wiederholten Collectiv-
Ausstellungen seiner Tendenzbilder in den
Kunstmetropolen, der zweite als unanfecht-
barer Meister und Führer der modernen
Maler Russlands bekannt. Aber wer weiß
etwas von dem genialen Schischkin,
dem schwermüthigen Schilderer russischer
Wälder mit ihren Fichten und Tannen,
mit ihren hundertjährigen Eichen und
»krausköpfigen«* Birken, mit ihrer tönen-
den Schweigsamkeit? Wer kennt Aiwa-
sowskys unvergleichliche Marinen, in
denen sich die Sonne Tauriens und Finn-
lands düstere Nebel spiegeln? Wer kennt
Kiewer, Lagorio, Wassnetzow,
Sjerow
und viele, viele andere? Und
namentlich, wer kennt Brjulów, den
Ahnherrn und Begründer der modernen
russischen Malerei? Und er war doch
sicherlich einer der bedeutendsten Künstler
aller Zeiten! Russland aber feierte vor
kurzem die hundertste Wiederkehr seines
Geburtstages, stolz und glücklich, diesen
Auserwählten unter seine Söhne zählen
zu dürfen.

Im Jahre 1799 in Petersburg geboren,
zeigte Karl Pawlowitsch Brjulów schon
als Knabe einen unbezähmbaren Hang zur
Malerei. Bald trat er in die Petersburger
Maler- Akademie ein, absolvierte seine
Studien mit Auszeichnung und erhielt den
Rom-Preis. Mit seinem Bruder Alexander,
der Architekt war, zog er nun nach
Rom, wo er im Auftrage des Kaisers
Raphaels »Schule von Athen« copieren
sollte. Und hier, in der ewigen Stadt,
schuf er im Jahre 1833 sein Hauptwerk:
»Der Untergang Pompejis«. Dieses Bild frap-

pierte durch die Kühnheit der Composition
und insbesondere durch die (bis dahin
in Russland ungekannte!) coloristische
Wirkung, deren Reiz die damaligen Kunst-
kenner, darunter den Dichter Gogol, zu
schrankenloser Bewunderung hinriss. Das
Gemälde wurde für die Petersburger Eremi-
tage angekauft. Bald darauf kehrte Brjulów
nach Petersburg zurück, wo er zum Professor
der (damals noch sehr unbedeutenden)
Akademie der bildenden Künste ernannt
wurde und durch zahlreiche Porträt-Studien
viel von sich reden machte. Im Jahre 1834
schuf er sein zweites berühmtes Gemälde:
»Die Ermordung der Ines de Castro«, das
sich in den Sammlungen der Akademie
befindet. Dieses Bild ist hauptsächlich in
coloristischer Beziehung dem ersten Meister-
werke Brjulóws noch überlegen. Es
folgten dann »Die Belagerung von Pskow«
(Pleskau) und eine ganze Reihe von Bildern,
die auf Reisen in Palästina, Türkei und
Griechenland entstanden sind. Eines der
hervorragendsten unter diesen Gemälden:
»Die Fontaine von Bachtschissarai« (»Der
Springbrunnen der Thränen«), nach dem
gleichnamigen Poem Puschkins concipiert,
bildet jetzt die Zierde des Rumiantzew-
Museums zu Moskau. Brjulów schuf über-
dies u. a. eine »Himmelfahrt Christi« (in
der Kasan’schen Kathedrale) und Fresken
(in der Isaakskirche zu Petersburg).

Dies sind die namhaftesten Werke
dieses ungewöhnlichen Künstlers, der als
Schöpfer der modernen russischen Malerei
und gleichzeitig als einer der größten Meister
seines Faches gelten darf. Im übrigen ist
es hoch, an der Zeit, dass wir mit der
bildenden Kunst der Russen — auch
wissenschaftlich — eingehender uns be-
fassen und einen tieferen Blick werfen in
jene stillen Kunststätten, in denen Brjulów
einst sein Lebenswerk geschaffen und heute
noch ein Rjepin, ein Aiwasowsky rastlos
an der Arbeit sind.

WIEN. JEFIM EPHRON.

* Epitheton in russischen Volksliedern.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 51, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0051.html)