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An seinem Arbeitstische, der neben
dem Fenster steht, sitzt ein alter Mann.
An der weißen Gardine kriecht eine
Wespe. Langsam kriecht sie von oben
herunter.
Der alte Mann am Arbeitstische be-
merkt die Wespe an der weißen Gardine.
Er hält inne, wartet. Sie will nicht fort.
Er öffnet das Fenster; sie wird ja wohl
zuletzt hinausfliegen. Da draußen gehört
sie ja hin.
Sie will noch immer nicht fort. So
oft sie herunter gekommen ist, kriecht
sie wieder hinauf, und so oft sie oben
angelangt ist, kriecht sie wieder herunter.
Als suchte sie etwas. Sie ist ganz stumm.
Merkwürdig stumm. Fast unheimlich
stumm.
Es ist etwas Eigenes um eine Wespe.
Einer Fliege wegen rührt man sich nicht
von der Stelle; sie darf uns sogar auf
der Nase sitzen. Und eine von den
großen Pferdefliegen, zum Beispiel, kann
wochenlang an der Gardine sitzen —
man sieht sie nicht einmal an. Wegen
einer Wespe aber fährt man auf, selbst
ein weißhaariger Mann, wenn sie auch
langsam umherkriecht und keinen Ton
von sich gibt. Ja, unser Mann dort am
Arbeitstische zog sich zurück, schob seine
Mappe fort, sein Tintenfass, sein Lineal
— kurz, die ganze Geschichte.
Den nächsten Tag aber saß die Wespe
immer noch an der Gardine. Dann ge-
schah Folgendes: Eine Freundschaft für
die Wespe erwachte in ihm. Er hatte
sich an sie gewöhnt, hatte sie kennen
gelernt; Schaden richtete sie keines-
falls an.
Er setzte sich also wieder an den
Arbeitstisch, fieng an zu liniieren und zu
schreiben und sah hin und wieder zu
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seiner neuen Freundin auf, nach der
Wespe, wie es ihr ergieng.
Zuletzt wurde er aber ganz nachdenk-
lich. War nicht irgend etwas mit ihr
los? Langsamer und langsamer kroch sie
vorwärts, immer langsamer. War sie
krank? Wenn sie vielleicht Darmver-
schlingung hätte, zum Beispiel! Oder
Magenkrebs?
Am Nachmittag war die Gardine leer.
Nun schleppte sich die Wespe unten am
Fensterbrett herum. Es konnte kein
Zweifel sein: Sie war krank.
Aber sieh! Was lag doch neben
Cantus Weltgeschichte dort? Eine todte
Wespe. Eine andere Wespe, die todt
war. Er hatte sie vor zwei Tagen ge-
sehen, ohne sie besonders zu bemerken
oder über sie nachzudenken.
Sollte vielleicht eine Verwandtschaft
bestehen zwischen der kranken und der
todten Wespe?
Er hörte in seiner Arbeit auf. Die
Wespe schleppte sich immer näher an die
todte Wespe heran. Dorthin wollte sie,
daran konnte man nicht zweifeln.
Sollte es vielleicht Mann und Frau
sein?
Er stand vom Tische auf. Er gieng
zum Fenster hin. Es war fast, als
schnüre ihm etwas die Brust zusammen.
Eine Wespe war es, eine von denen,
die durch ihr Stechen berüchtigt sind
und die von allen so tief gehasst werden;
eine jener Wespen, die eine ganze Familie
im Garten am Mittagessen hindern
können, weil sie alle in die Nasen stechen
und die decolletierten Damen zwischen
jedem Löffel Suppe vor Schrecken zum
Schreien bringen, eine jener Wespen,
die ja, solch eine Wespe war es
eben — und doch erwachte in dem alten
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