Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 77
Text
Von BARBEY D’AUREVILLY.
Es war eine Nacht, wie wir beide sie oft durchwachen Du dort
unten in dem engen, düster getäfelten Räume deiner einsamen Klosterzelle, die
an das Grab mahnt, und ich an einem noch traurigeren Orte — in dem
leeren Saale meines Herzens. Und SIE, die wir beide verabscheuen, die aber,
ach, uns liebt, das Gespenst unserer Kissen: SIE, die SCHLAFLOSIGKEIT,
setzte sich an meiner Seite nieder, um mich mit ihren großen, blassen, er-
storbenen Augen anzustarren — mit ihren aufgerissenen Augen, deren un-
erbittliche Bannkraft unsere Lider schreckhaft weitet, und qualvoll offen hält.
Und in jener Nacht wuchsen diese starren Augen weiter und bleicher
als sonst aus dem Dunkel hervor. Wie seltsam, dass ich sie überhaupt
erkennen konnte! Denn sie glänzten nicht, leuchteten nicht — und dennoch
waren sie da und bohrten sich durch die Finsternis, wie der weiße Blick einer
Statue, der uns plötzlich bei einer Biegung des Waldwegs in der Dämmerung
erschauern lässt.
Und sie schauten so hoffnungslos, diese blassen Augen der SCHLAFLOSIG-
KEIT, so hoffnungslos und so starr. In ihren harten Blicken lag so viel Verzehrtes,
Verbranntes und dennoch wieder Verbrennendes; man fühlte wohl, dass sie
trotz ihrer staubbleichen Farbe aus dem Innern heraus glühten, wie in tief
geheimnisvoller Todesangst — man hätte sich bei ihrem Anblick fast wundern
können, dass Dürer seinem von der Last der Trostlosigkeit gebeugten Atlas
nicht IHREN Ausdruck gegeben.
Um sie nicht sehen zu müssen, diese unerträglichen Augen, die mit Gewalt
die meinigen aufrissen, wie das Messer die Schale der Auster — um sie
nicht sehen zu müssen, zündete ich meine erloschene Lampe wieder an. Der
goldene Lichttropfen sickerte an dem Wandgetäfel entlang, fiel wie eine Thräne
auf meinen Spiegel, der im Grunde seines Ebenholz-Rahmens zu erbeben schien,
und heftete ein mattes Schimmern auf die schmerzverkrümmten Knie des
dunklen Bronze-Crucifixes. Doch verscheuchte er die Vision jener offenen Augen
nicht — jener irrsinnig weiten, starrenden Augen, deren todte Aschenblässe
kein Strahl je wieder beleben kann.
Sie blieben bei mir, auch in dem goldenen Lichte, blieben hartnäckig,
wie ein böser Traum, diese erloschenen und immer noch sichtbaren Gestirne.
Und sie dehnten sich immer mehr, bis ich schließlich nur sie noch sah. Und
ich erkannte nicht mehr, ob sie wohl zu einem Haupte gehörten; und ich sprach
zu mir: »Seltsamer Anblick! Ist sie nicht vielleicht, vom Kopf bis zu den Füßen,
nur EIN offenes Auge — die SCHLAFLOSIGKEIT?« Die Nacht gieng hin, die
Stunden entwichen, die feigen Unsterblichen, die immer fliehen und uns bei jedem
Enteilen einen Pfeil mehr in unser pfeilstarrendes Herz schleudern. Die Lampe
versiegte, erlosch. Und auf der schwarzen Hülle, die das Dunkel von neuem
über die Wände breitete, begannen die blassen Augen des nächtlichen Un-
geheuers wieder in zwei weiten Kreisen aufzuglimmen — bis zum Morgen, da
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 77, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0077.html)