Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 78
Text
sie verschwanden, als hätten sich ihre riesengroßen Lider über sie herab-
gelassen, gleich lebendigen Vorhängen — das eine zu den düsteren Rosetten
des Plafonds aufsteigend, das andere in den violetten Scabiosen des Teppichs
versinkend.
Und von der schweren Drangsal erlöst, dachte ich über ihre Blässe nach
und sagte mir, dass es über ihre Grabesschatten hinaus keine Farbe mehr
geben könne — dass diese Augen ganz verschwinden müssten, wenn sie nur um
ein Weniges mehr erblichen. Ich sagte mir, dass ich sie bald nicht mehr sehen
würde, dass die Stunde nicht mehr fern sei, in der sich meine Augen auf
immer unter ihren Lidern begraben müssten.
Denn nicht immer wäret ihr so, wie ich euch jetzt sehe, nicht immer
hattet ihr eure gespenstige Blässe, ihr nimmermüden Augen der SCHLAF-
LOSIGKEIT! Nicht immer standet ihr so gähnend weit, starr und leer vor
mir. Zuweilen senktet ihr eure Lider, zuweilen hattet ihr Glanz, Bewegung
und Leben. Ich habe euch gesehen — noch ist es nicht allzulange her — wie
ihr meine Nächte mit eurem Leuchten erhelltet, das schöner, schimmernder,
farbenreicher strahlte als die Gestirne, die Himmelsaugen über uns, die sich
auch niemals schließen. O, ihr blassen Augen — damals hattet ihr die Töne des
Regenbogens und die Tinten der Morgenröthe, als ihr mir auf dem Gagat
meiner Nächte den Smaragd der grünen Hoffnung, den Azur heimlicher Zärt-
lichkeiten, den Rubinenregen entzündeter Liebesglut aufschimmern ließet! Die
Augen aller Frauen, die ich liebte, jetzt umso heißer liebte, weil ich mich ihnen
nie wieder nahen konnte, sie glitten, im Wiederschein der Erinnerung weich
erglimmend, an dem glühenden Spiegel deiner Augen vorüber, o SCHLAF-
LOSIGKEIT — und ich fand sie ganz in den deinen wieder, fand selbst ihre Thränen.
Doch nun, ihr chamäleontischen Augen, nun seid ihr nicht mehr! Der
Wiederschein der Augen, die ich geliebt, verblasste, noch ehe das Licht meiner
Seele verlosch. Die SCHLAFLOSIGKEIT gleicht dem Leben, wie unsere
Nächte unseren Tagen gleichen. Gibt es denn in unserem armen, farblosen Dasein
noch eine Farbe, und wär’s eine traurige, die ihr, ihr Augen, ihr wechselnden
Bilder der Seele, auch noch so matt wiederzuspiegeln vermöchtet? Chamä-
leontische Augen der Schlaflosigkeit unserer Jugend, ihr seid jetzt wie jene anderen
leeren Augen, die uns noch auf unserem Pfade begegnen, am öden Abend des
Tages, der — ach, so zögernd nur — zur Neige geht.
Gewiss! Es musste so sein, und ich wusste es Ist es nicht unser
aller, aller Schicksal? Aber weshalb, ihr chamäleontisch wechselnden Augen,
können wir nicht auch die unsrigen schließen, da ihr unsere traurigen Nächte
nicht mehr erhellt? Weshalb sinken wir noch nicht in den Schlummer, der
keinen Traum mehr bringt — nicht einmal den Traum eines Traums — den
Traum von erloschenem Wiederschein? Weshalb endlich erscheinst du jede
Nacht, o SCHLAFLOSIGKEIT, wie der Geist der ertrunkenen Ophelia, das
Haar von den Strohhalmen durchzogen, die du dem Bett entnahmst, auf dem
wir in ruheloser Angst unsere Nächte durchwachen; weshalb setzest du dich zu
unseren Füßen nieder und blickst uns an — du Irre, Bannende — und tödtest
uns langsam mit deinen blassen Augen, die einst so vielfarbig gewesen?*
* Deutsch von HEDDA MOELLER-BRUCK.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 78, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0078.html)