Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 79

Das System des Védanta (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 79

Text

DAS SYSTEM DES VÉDANTA.
Von ADOLF GRAF VON SPRETI (Starnberg).

Védanta ist das älteste der bekannten
philosophischen und religiösen Systeme und
bildet die Unterlage für die esoterische Seite
der ältesten aller Religionen, des Brahma-
nismus. Dass diese Religion in ihrer exoteri-
schen Erscheinungsform als Volks-Religion
heutzutage sehr in Verfall gerathen ist und
nur von wenigen Auserwählten in ihrer
reinen, ursprünglichen Form gekannt und
geübt wird, darf uns ebensowenig zu
einem abfälligen Urtheile über die ihr
zugrunde liegende Philosophie verleiten,
wie es ungerechtfertigt wäre, infolge der
im alltäglichen Leben zutage tretenden
Auswüchse und Verkehrtheiten bei unserer
christlichen Bevölkerung die tiefethische
Bedeutung und die innere Wahrheit des
Christenthums zu leugnen. Wer ernstlich
und ohne alle Voreingenommenheit forscht
und vergleicht, wird sich sehr bald über-
zeugen, dass beide auf denselben Grund-
Ideen aufgebaut sind. Védanta ist diejenige
Philosophie, welche tiefer als alle anderen
philosophischen Systeme in das eigentliche
Wesen des Menschen eindringt; welche
nicht vor der sogenannten Seele als einem
unbekannten, unerforschlichen und unbe-
weisbaren Etwas, einem unlösbaren Räthsel
stehen bleibt, sondern sogar über diese
hinaus bis zum Unendlichen, Erhabensten,
bis zum Göttlichen vordringt und es uns
nicht nur zur unabweisbaren Pflicht macht,
uns selbst bis zu dieser wahren Erkenntnis
durchzuarbeiten, sondern uns auch den
Weg weist, wie wir dieses unser Endziel
erreichen können.

Befiehlt uns Christus: »Werdet voll-
kommen, wie euer Vater im Himmel
vollkommen ist«, so stellt der Védanta es
als unsere Aufgabe hin, »das Göttliche
seinem wahren Wesen nach zu erkennen,
in uns zu verwirklichen und so Eins mit
ihm zu werden«. Kommt dies in Wirklich-
keit nicht auf dasselbe hinaus?

Hiebei ist jedoch zu beachten und
beim Studium der Védanta-Philosophie

stets im Auge zu behalten, dass wir den
Worten: »Gott und das Göttliche« (in-
sofern wir hiemit Atma oder das Aller-
höchste, das Absolute bezeichnen wollen)
im védantischen Sinne eine noch tiefere
Bedeutung beilegen müssen, als dieselben
in den übrigen religiösen und philosophischen
Systemen haben. In diesen fällt nämlich
der Gottes-Begriff mit dem des Schöpfers
zusammen, während der védantische Gottes-
Begriff noch über den Schöpfer hinaus-
reicht. Mit Atma bezeichnet nämlich der
Védantist das völlig eigenschaftslose, un-
endlich erhabene, unwandelbare, ewig aus
und durch sich selbst bestehende, ewig
fortbestehende, seligste Sein, das zwar der
innerste Wesenskern alles Geschaffenen
sowohl, wie auch des Schöpfers selbst ist,
das aber selbst weder handelnd oder in
irgendeiner Thätigkeit begriffen, noch
durch irgend etwas beeinflussbar gedacht
werden darf. Weil dieses Atma aber aller
Eigenschaften bar ist, so lässt es sich
auch nicht beschreiben, und es kann von
ihm nur gesagt werden, was es nicht ist.
Gleichwohl ist es das einzig wahrhaft
Reale, denn außer ihm ist alles dem
Wechsel unterworfen, von Bedingungen
abhängig und durch außer ihm Stehendes
beeinflussbar. — Aus alldem geht hervor,
dass Atma vermittelst unseres beschränkten,
geschaffenen Menschen-Verstandes un-
möglich erkannt und erforscht werden
kann; denn Atma kann sich nur selbst
erkennen; und nur, wenn wir das in uns
lebende, göttliche Princip zum Durch-
bruche gelangen lassen, dann können wir
allmählich diesen Begriff fassen, endlich
verstehen, in uns verwirklichen und so
unsere Bestimmung erreichen. Wollen
wir daher dem Zwecke unseres Daseins
gerecht werden und zur endlichen Er-
lösung gelangen, so müssen wir einerseits
bestrebt sein, uns von allen Außendingen
abzuwenden, um den in uns lebenden
Wesenskern freizumachen und in seiner

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 79, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0079.html)