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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 84

Text

LIONARDO DA VINCI.
Von OTTO SACHS.*

Dreierlei Standpunkte kann der Künstler
gegenüber dem Leben einnehmen; einen
davon muss er wählen. Und wenn man die
Sache genau betrachtet, so hat er gar keine
Wahl gehabt von Anfang an.

Er kann es, wie es nun ist, mit offenen
Sinnen und freudiger Seele empfangen,
ohne zu fragen, woher und wohin; froh,
dass es überhaupt kam und dass er es
nun gestalten darf. Oder er kann es ver-
gleichend betrachten, er kann ihm
Preis und Wert setzen, im Verhältnis zu
einem unvergleichlichen, unerreichbaren
Maßstabe, den er in sich trägt, im Ver-
hältnis zu einem Heiligen, das er
verehrt. Oder er kann dem Leben auch,
wo er es trifft, mit neugieriger, unbefan-
gener Frage entgegentreten; er kann
gelernt haben, sich recht zu wundern,
bei allem, woran die anderen achtlos als an
einem längst bekannten Alltagsdinge vor-
überschlendern, aufmerksam stehen zu
bleiben und es neu und fremd und auch selbst
als neugieriger Fremder zu betrachten.

Den Künstler der ersten Art nenne
ich den idyllischen, den der zweiten den
romantischen oder titanischen, den letzten
aber den fremden Künstler.

Der sentimentale oder romantische
(titanische) Künstler strebt danach, die

großen Ideen und Ideale seiner Zeit, die
schon formuliert, geheiligt, nur noch nicht
künstlerisch ausgedrückt sind — also Un-
darstellbares, mindestens bisher Un-
darstellbares — darzustellen. Wie sich
nun schon die Art eines jeden Künstlers
viel mehr in seiner Technik und seinen
Mitteln ausdrückt als in den Ideen selbst,
so müssen namentlich die Mittel dieses
Künstlers dem darzustellenden »Heiligen«
gemäß sein: »erhaben, gewaltig, titanisch,
Ehrfurcht erweckend«; — hie und da ge-
lingt es ihm dann auch, diesem »Heiligen«
einen ewigen Typus aufzudrücken. Er wird
nie zufrieden sein; dem »Heiligen« kann
man sich nur annähern, man kann es
niemals erreichen.

Aber: der fremde Künstler kennt
keine Heiligkeit mehr, er hat sie abgestreift,
ehe er Künstler wurde, wie alles von außen
Kommende, er stellt nur mehr sich selbst
dar; in sich dann das Neue, »Schlimme«,
Werdende, Weltfeindliche, das in ihm
wie in den wenigen anderen ist, nur erst
im Keime vielleicht, ein künftiges Heiliges,
noch aber zart, klein, schwach, kaum zu
fangen, elfenhaft geflügelt. Darum sind
seine Mittel und seine Ausdrucksweise
anders; er verschmäht das Erhabene und
sucht das Subtile.**

* Dieses Bruchstück, das im folgenden Hefte der »Wiener Rundschau« seine Fortsetzung
finden wird, wurde dem Nachlasse des Dichters Otto Sachs entnommen, der im Herbst des
Jahres 1897 im Alter von 28 Jahren in Wien gestorben ist. Man vergleiche die Bemerkungen
auf der letzten Seite dieses Heftes. D. RED.

** In losem Anschluss an diese aphoristischen Ausführungen, denen anscheinend eine
ergänzende Fassung bestimmt war, findet sich unter den Papieren des Verfassers eine Notiz,
die uns erkennen lässt, in welchem Sinne er sich die Durchführung und namentlich das
Ergebnis dieser Untersuchung über da Vinci gedacht hat. Sie lautet:

»Lionardos Christus (scheint mir) der vorbildlich geahnte Typus des modernen Cerebral-
Denk-Menschen; seine Mona Lisa der Typus der femme serpent etc. etc.«

In einer Notiz über Wagner, dessen »Tristan« in psychologische Beziehungen zu
Lionardo gebracht werden sollte, heißt es:

»Wagner gehört zu beiden obigen Typen und zum dritten auch noch dazu. Nur im
Tristan“ ist er einmal ein fremder Künstler geworden, ganz aus den tiefsten Abgründen
seiner neuen und zukunftsschwangeren Seele herausschöpfend, ganz individuell und darum an
das Kommende anklingend. So auch die Mittel des „Tristan“, das Festhalten des Schwebenden,
Entschlüpfenden, scheinbar noch Ungeborenen der Seele eines modernen Menschen mit all ihren
Schauern Da ist er denn auch der größte Künstler der modernen Zeit geworden. Vgl.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 84, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0084.html)