Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 83

Das System des Védanta (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 83

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SPRETI: DAS SYSTEM DES VÉDANTA.

keit und Unrealität der ganzen Welt und
aller Sinnenreize zu überzeugen und auf
Grund dieser gewonnenen Überzeugung
unser Interesse für dieselben aufzugeben,
um etwas Besserem und Erhabenerem
zuzustreben, das wir dann mit der Zeit
ebenfalls als nichtig erkennen werden,
und so fort, bis wir endlich zur Erkennt-
nis von Atma, dem einzig Realen, ge-
langen.

Der ganze Vorgang dieses allmählichen
Negierens soll aber nicht durch Anwendung
von Gewaltmaßregeln, sondern lediglich
infolge erlangter besserer Erkenntnis von
der Wertlosigkeit und Nichtigkeit der bis-
her ersehnten Dinge vor sich gehen; ja
die gewaltsame Zurückdrängung unserer
Neigungen, ohne gleichzeitige bessere Ein-
sicht von dem Thörichten unseres Ver-
langens, wird als ganz nutzlos verworfen.
Grund hiefür ist, dass jede Leidenschaft,
Begierde etc. eine Kraft ist, welche —
an sich betrachtet — neutral, das heißt
weder gut noch böse ist; der Stempel des
Guten oder Bösen wird ihr erst durch
den Gebrauch, den wir von ihr machen,
aufgedrückt. Es kann sich demnach nie
darum handeln, eine solche in uns woh-
nende, einen Theil unserer Persönlich-
keit ausmachende und von dieser nicht
zu trennende Kraft zu beseitigen — was
ein thörichtes, weil der Natur der Sache
nach unmögliches Unternehmen wäre —

sondern wir müssen lediglich bemüht sein,
diese Kraft in die richtigen Bahnen zu
lenken und sie auf diese Weise zu unserem
Heile anzuwenden. Der ganze Process des
Negierens soll sich auf demselben Wege
abwickeln, wie das heranwachsende Kind
ganz von selbst seine Puppe und sein
sonstiges Spielzeug beiseite legt, weil es
die Lust daran verloren hat, nachdem es
andere Beschäftigungen kennen gelernt,
die ihm mehr Vergnügen machen, und
seinen Zwecken förderlicher scheinen. Bei
eingehendem Nachdenken wird dieses Ver-
fahren auch als das einzig rationelle und
zum Ziele führende erkannt werden. Denn,
wie gewöhnlich verlangt wird, den Kampf
gegen unsere Leidenschaften etc. (die
ja einen integrierenden Theil unseres
Charakters, unserer ganzen dermaligen
Persönlichkeit ausmachen) aufzunehmen,
hieße mit dem Kopfe durch die Wand
wollen; wir können nur mit ihnen
kämpfen, d. h. selbe uns dienstbar machen
zu guten Zwecken und in einer für unseren
Fortschritt günstigen Richtung.

Es würde zu weit fuhren, wollte ich
mich noch weiter in die tiefsinnigen
Lehren dieses erhabenen Systems ein-
lassen. Aus dem bisher Angegebenen mag
zur Genüge erkannt werden, in welcher
Richtung sich das von mir zum Studium
empfohlene Védanta-System bewegt.*

* Wer sich für eingehendere Studien in dieser Richtung interessiert, dem möchte ich die
Lectüre nachstehender Schriften von Paul Deußen empfehlen:

1. Die Elemente der Physik (1879);

2. Das System des Védanta (1883):

3. Die Sutras des Védanta des Bâdarâyana (1887);

4. Sechzig Upanishads des Veda (1897);

5. Die Philosophie des Veda bis auf die Upanishads (1894);

6. Die Philosophie der Upanishads (1899);

wobei ich mich zugleich auf die vorzügliche Kritik dieser Bücher in der Beilage zur Allge-
meinen Zeitung (München), Nr. 229 und 230 vom 7. und 9. October 1899, von Anton Bettel-
heim beziehe. D. VERF.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 83, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0083.html)