Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 82

Das System des Védanta (Spreti, Adolf Graf von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 82

Text

SPRETI: DAS SYSTEM DES VÉDANTA.

drängt er uns mit derselben zugleich zur
Stellung einer weiteren Frage, nämlich:
Wenn Atma, als das einzig Reale, allem
und jeglichem in der Welt zugrunde
liegt, also sozusagen in nuce auch in
Agnâna vorhanden sein muss, und wenn
die ganze Erscheinungswelt nur auf ein
Verkennen oder Misskennen von Atma
zurückzuführen ist — woher kam
dann, oder wie entstand dieses Ver-
kennen, diese Gottvergessenheit; wie
konnte aus Atma oder dem absoluten
Gnâna ein Anatma oder Agnâna hervor-
gehen? Auf diese Frage anwortet der
Védanta nur mit Wiederholung des
Satzes, dass beide, Gnâna wie Agnâna,
von Ewigkeit her sind, und dass die
Frage über die Entstehung von Agnâna
absolut unlösbar sei. Dies wird jedoch
nicht einfach als ein Dogma hingestellt,
sondern auch begründet. Erstlich ist der
Menschenverstand nur ein Attribut unseres
physischen Körpers, also auch in seiner
höchsten Vollkommenheit immer nur ein
Product der unserer Jíva eigenthümlichen
Schaffenskraft, kann demnach nimmer-
mehr befähigt sein, mehr auszusagen und
zu erforschen, als sein Schöpfer in ihn
gelegt hat. Aber selbst abgesehen davon,
muss ein Forschen nach dem Ausgangs-
punkte von Agnâna uns notwendiger-
weise immer tiefer und tiefer in die
Maschen eben jenes Netzes verwickeln,
aus welchem wir uns durch Forschen in
der entgegengesetzten Richtung befreien
sollen — weshalb ein solches Unter-
nehmen der Erreichung unseres Zieles
geradezu hinderlich und schädlich ist —
und je mehr wir uns in die Tiefen von
Agnâna hinabsenken, umso unklarer, umso
dunkler wird es um uns, ohne dass wir
je dem ersehnten Ziele näher kommen,
das gleich einer Fata morgana stets vor
uns zurückweicht. Schlagen wir aber den
entgegengesetzten Weg ein, und streben
nach wahrer Selbsterkenntnis, so erheben
wir uns — in demselben Maße, als wir
dieser unserer eigentlichen Lebensaufgabe
gerecht werden — umsomehr über die
Agnâna-Ebene, und da wir infolge dessen
auch immer deutlicher und klarer von der
Unrealität der ganzen Agnâna-Sphäre über-
zeugt werden, so erscheint uns folgerichtig
auch alles Forschen nach der Ursache

und dem Ursprunge derselben als immer
unnöthiger, ja sogar als direct zweck-
widrig. Für den vollendeten Weisen aber
(im Védanta-Sinne), d. h. für denjenigen,
welcher Atma als solches erkannt und in
sich verwirklicht hat, der also infolge
seines Wissens und Erkennens allein im-
stande wäre, den richtigen Aufschluss zu
geben, existiert Agnâna nicht mehr, er
hat es als Täuschung und Illusion er-
kannt und negiert.

Die Sache liegt daher einfach folgender-
maßen: Der noch in Agnâna Befangene
ist infolge seiner Unwissenheit absolut
unfähig, diese Frage zu lösen, denn er
ist durch Selbsttäuschung und Illusionen
zu sehr verblendet, um die Wahrheit zu
sehen; — der Weise aber (im Védanta-
Sinne) weiß, dass ihn jedes Rückwärts-
blicken zum mindesten von seinem End-
ziele ablenkt und dessen Erreichung ver-
zögert. Er wird sich daher wohl hüten,
über diese Frage nachzugrübeln. Hat er
aber sein Ziel ganz erreicht, so existiert
für ihn Agnâna überhaupt nicht mehr.
Es gibt also demnach niemanden, welcher
diese Frage lösen könnte. Es ist über-
haupt, richtig angesehen, eine Frage nach
der Erklärung von etwas, was nur eine
Schein-Existenz hat, dem also keine wahre
Realität zugrunde liegt, das demnach auch
gar nicht erklärt werden kann.

Wenn uns nun der Védanta lehrt, dass
die gesammte Sinnenwelt mit allem in ihr
nur eitel Täuschung und Illusion, und Atma
allein das ewig wandellose Reale sei, so
ist diese Lehre nicht misszuverstehen. Sie
ist gegeben vom Standpunkte des vollen-
deten Weisen. Für uns gewöhnliche Sterb-
liche, die noch zu tief in Agnâna-Banden
liegen, hat sie leider nur zu traurige
Realität. Der Védanta macht es uns aber
zur Pflicht, uns Schritt für Schritt von
dieser Täuschung zu befreien und so all-
mählich das einzig Reale zu erkennen und
in uns zu verwirklichen. Hiemit ist aber
durchaus nicht gesagt, dass wir gleich
von vorneherein gegen alles um uns her
gleichgiltig sein sollen; denn dies hieße
ja Unmögliches verlangen. Die zur Er-
reichung des Zieles allerdings absolut noth-
wendige Gleichgiltigkeit muss im Gegen-
theile dadurch erworben werden, dass wir
uns bestreben, uns wirklich von der Nichtig-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 82, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0082.html)