Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 81

Das System des Védanta (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 81

Text

SPRETI: DAS SYSTEM DES VÉDANTA.

Seins-Grunde Atma sind. Ist diese Er-
kenntnis in voller Klarheit erreicht, und
hat der Einzelne dieses ihm zugrunde
liegende göttliche Princip auch that-
sächlich in sich zur Verwirklichung ge-
bracht, so ist hiemit der Zweck jeglichen
Daseins erfüllt, die ewig wandellose,
keiner Steigerung oder Abnahme mehr
fähige Glückseligkeit errungen,* und der
(sonst endlose) Kreislauf von Geburt und
Tod für immer beendigt. Der einzige
Weg, welcher uns stufenweise dieser
Erlösung entgegenführt, ist allmähliches
Negieren all der Hüllen,** welche uns
verhindern, das unser wahres Ich bildende
Atma zu erkennen.

Fragen wir nun aber, was uns diese
Philosophie über die Entstehung des
Menschen lehrt, so finden wir hier eine
mit unseren christlichen Begriffen in
scharfen Gegensatz tretende Anschauung.
Nicht von Gott »geschaffen« ist der
Mensch und seine Seele (Jíva), sondern
letztere ist von Ewigkeit her. Nicht dem
durch Empfängnis und Geburt ins Leben
tretenden Körper wird durch Gottesmund
eine nun erst entstehende, dann aber
ewig lebende Seele eingehaucht; sondern
die schon von Ewigkeit existierende Seele
schafft sich einen für ihre jeweilig noth-
wendige Erden-Existenz passenden Leib.
Wann und unter welchen Bedingungen
eine solche neue Erscheinung der einzelnen
Jivas im irdischen Leben einzutreten
hat, ist durch Karma oder das ewig un-
abänderliche Gesetz von Ursache und
Wirkung bestimmt. — Um jedoch in
dieser Frage nicht unverständlich zu
bleiben, muss ich ein wenig weiter aus-
holen.

Es wurde schon erwähnt, der Védanta
lehre, dass Atma das einzig Reale, und
identisch sei mit absolutem Wissen und

Erkennen oder Gnâna. Das Gegentheil
von Gnâna ist Agnâna oder Unwissenheit,
in diesem Falle vielleicht bezeichnender
als Gottvergessenheit zu übersetzen. Gnâna
und Agnâna sind von Ewigkeit her be-
stehende Zustände und unendlicher Grad-
unterschiede fähig. Ist einerseits absolutes
Gnâna der Zustand höchsten Wissens
und Erkennens (gleich Atma), so ist abso-
lutes Agnâna der Zustand höchster Ver-
finsterung, Äußerster Gottvergessenheit,
und als solche die Ursache aller im Gegen-
satze zu Gnâna stehenden Täuschungen und
Illusionen, mithin die Ursache der Welt
und mit ihr auch des Menschen. Also
nicht, weil es Menschen gibt, gibt es auch
Unwissenheit, Gottvergessenheit, Verkehrt-
heit und was wir Böses nennen; sondern
weil es einen Zustand von Agnâna gibt,
gibt es auch Menschen, welche im selben
Verhältnisse, wie sie sich in früheren
Incarnationen aus diesem Zustande schon
mehr oder minder emporgearbeitet haben,
in diesem Leben mehr oder weniger
verkehrt und böse sein werden. Das
anfanglose Agnâna kann und muss daher
im Einzel-Individuum, dem Menschen,
durch Gnâna allmählich verdrängt und
endlich gänzlich überwunden werden,
wenn dieser seine Bestimmung erreichen
will. Nur weil die Einzeln-Jíva (Menschen-
Seele) den Gnâna-Zustand noch nicht er-
reicht hat, ist ihr fortwährendes Wieder-
erscheinen in irgendeiner Daseinsform
nothwendig; diese Notwendigkeit hört
aber auf, sowie sie sich nicht nur zum
vollen Bewusstsein ihres Einsseins mit
Atma aufgerafft, sondern dieses Bewusst-
sein auch thatsächlich in sich ver-
wirklicht hat.

Bietet uns der Védanta hiemit eine
befriedigende Lösung der Frage nach dem
Entstehen des Bösen in der Welt, so

* Der Ausdruck »errungen« ist hier im Sinne des Védanta nicht ganz zutreffend, kann
jedoch schwer durch einen anderen ersetzt werden. Nach dieser Philosophie ist ja Atma und
mit ihm der Besitz dieser unwandelbaren Seligkeit in jedem Einzelnen von Ewigkeit gegen-
wärtig, ihm nur infolge der Täuschungen, in welchen er dahinlebt, verborgen und unbekannt.
Von »erringen« kann also nur insoferne die Rede sein, als es uns Mühe und harte Arbeit
kostet, uns von diesen Täuschungen zu befreien und den in uns bereits vorhandenen Zustand
von Sat-Chit-Ananda oder höchsten Wissens, Erkennens und wandelloser Seligkeit in
seinem ganzen Umfange zu verwirklichen.

** Diese Hüllen (oder Koshas) sind unsere falschen Vorstellungen, unsere Leidenschaften
und Begierden etc., welche den klaren Blick trüben und die Erkenntnis der Wahrheit hindern.
Je mehr wir uns von denselben losmachen, umso klarer tritt das durch sie verhüllte und ver-
düsterte, wahre Bild Gottes in uns hervor.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 81, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0081.html)