Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 80

Das System des Védanta (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 80

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SPRETI: DAS SYSTEM DES VÉDANTA.

ganzen Erhabenheit kennen zu lernen,
anderseits aber die ganze Welt, unsere
eigene Persönlichkeit inbegriffen, nur in
Beziehung und in Hinsicht auf Atma oder
das Allerhöchste betrachten.

Hieraus ergibt sich: 1. dass der
Védanta ein System fortgesetzter Ver-
neinung ist; 2. dass wir selbst, wenn wir
unserem Ziele ernstlich zustreben wollen,
unser ganzes Augenmerk darauf richten
müssen, alles, was Eigenschaften und
Thätigkeits-Außerungen besitzt, in seiner
ganzen Nichtigkeit und Wertlosigkeit zu
erkennen, allmählich dessen Realität zu
verneinen und so endlich uns selbst als
Atma zu realisieren. — Es ist ein schwindel-
erregendes Gerüste, das hier aufgebaut
wird, eine wahre Jacobs-Leiter, welche
mit ihrem einen Ende auf dem unsicheren,
schwankenden Boden der Erde und der
ganzen Schein-Welt steht, mit dem anderen
Ende aber noch über den uns in den
christlichen Religionen in Aussicht gestellten
Himmel* hinausragt. Unzählige Sprossen
sind schon zu erklimmen, bis wir nur
eine einigermaßen freie Aussicht auf das
Endziel erreichen. Das Beklemmende und
Schwindelerregende dieses Weges wird
aber noch dadurch erhöht, dass wir mit
jedem Höherklimmen die unter uns ge-
legene, überwundene Stufe abbrechen
müssen; denn solange wir in dieser noch
einen Rückhalt und eine Stütze zu finden
wähnen (und uns sozusagen den Rückzug
freihalten wollen), werden wir nicht fähig
sein, auf der nächsthöheren wirklich festen
Fuß zu fassen. Das Endziel selbst aber
dünkt unserem verschrobenen, in der Be-
wunderung des Irdischen versunkenen
Menschenverstande so dunkel, so zweifel-
haft, so unnatürlich, dass nur wenige
sich dazu verstehen können, das Wagnis
des Aufstieges zu unternehmen. Trägt
doch schon die unterste Stufe dieser
Himmelsleiter die Aufschrift: »Verneine

die Realität der phänomenalen
Welt
!« Und wenn es uns dann endlich
wirklich gelungen ist, uns über diese
schwer zu überschreitende Schwelle hin-
wegzuarbeiten und wir nach harter Arbeit
einen Ruhepunkt gefunden zu haben
glauben, so starrt uns ein neues »Ver-
neine!« entgegen; und so fort und fort,
bis wir, auf der letzten Sprosse angelangt,
auch die Realität dieser noch verneinen
und den gewaltigen Sprung zum »allein
Realen« wagen müssen. — In der klaren
Erkenntnis der ungewöhnlichen Schwierig-
keiten, welche sich der praktischen Aus-
führung der Lehren dieses Systems ent-
gegenstellen, wird von den Schülern der-
selben in erster Linie auch die Erwerbung
von vier Vorbedingungen oder Quali-
ficationen verlangt, ohne welche weder
ein richtiges Verständnis, noch weniger
aber ein praktisches Vorwärtsschreiten
möglich ist. — Aus diesen wenigen An-
deutungen ergibt sich schon von selbst
und mit Nothwendigkeit, dass zur Lösung
einer solchen Riesenaufgabe die kurz-
bemessene Spanne Zeit eines einzigen
Menschenlebens unmöglich ausreichend
sein könne; ja, dass sogar eine ungekannte
Zahl solcher Erden-Leben erforderlich sein
muss, um den Einzelnen seinem Ziele
entgegenzuführen. Es ist daher ganz selbst-
verständlich, dass der Védanta nur unter
Voraussetzung der Annahme der Re-
incarnations-Lehre studiert und ver-
standen werden kann.

Grundlehre des Védanta ist der Satz:
»Das gesammte Weltall mit all seinen
uns sichtbaren und unsichtbaren Be-
wohnern ist eine Illusion, eine Täuschung
und besitzt an sich keine Realität; Atma
allein ist das Reale

Endzweck und Ziel dieses Lehr-
systems ist: die Einzelwesen (Jívas) zu
der Erkenntnis zu führen, dass sie ihrem
innersten Wesen nach, in ihrem letzten

* Die Behauptung, das Wort »Nirvana« entspräche unserem christlichen Begriffe vom
Himmel, ist ebenso unrichtig, als wenn man es für das »absolute Nichts« erklärt. Nirvana ist
synonym mit Móksha oder der Erlangung endlicher Befreiung von aller Nothwendigkeit des
Daseins in irgendwelcher Form oder Gestalt, an irgendwelchem Orte und zu irgendeiner
Zeit; es ist die Realisierung des ewig wandellosen Seins, d. h. von Atma oder dem Gött-
lichen. Es ist demnach gerade das Gegentheil von dem Nichts; nämlich das einzig wahre
Sein
, welches freilich mit dem stets wandelbaren, unsteten Dasein nichts mehr zu schaffen
hat. Wenn aber unser mit den Daseinsformen verwachsener, und einen Theil derselben bilden-
der Menschenverstand auch nicht fassen kann, was dieses absolute Sein ist, so ist dies
noch lange kein zureichender Grund, um dessen Existenz zu leugnen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 80, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0080.html)