Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 54

Zwei Skizzen (Obstfelder, Sigbjörn)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 54

Text

OBSTFELDFR: ZWEI SKIZZEN.

Manne eine sonderbare Empfindung, fast
ein warmes Gefühl. Kann man mit einer
Wespe Mitgefühl empfinden? Wenn das
möglich ist, war es gewiss eine Art Mit-
gefühl, das in ihm sich regte; wie sie
sich da vorwärts schleppte, wie sie müh-
selig einen Schritt weiter humpelte,
kraftlos umfiel und stille lag, um dann
wieder ein Stückchen weiter zu kriechen.
War das der Todeskampf?

Eine Fliege setzte sich auf sie nieder
und wollte sie reizen. Sie rührte sich
nicht. Immer wieder kam die Fliege und
machte einen Höllenlärm auf ihrem
Rücken. Sie schüttelte sie nicht ein-
mal ab.

Eine Weile danach lag sie neben der
todten Wespe. Sie rührte sich nicht
mehr. Sie war todt.

— — Es war ganz still im Zimmer.
Es war fast feierlich

Sie war in die Stube hereingekom-
men, Gott weiß, wie und warum. Sie
hatte hin und her getastet, als suche sie
nach etwas. Sie hatte nichts gewusst,

nichts gedacht, nichts empfunden. Nicht
einmal Sehnsucht hat sie empfinden
können. Was hätte sie wohl empfinden
können, sie, ein kleines Insect, und gar
noch eine Wespe?

Sie ist nur gewandert und gewandert,
hat gesucht und gesucht, den Ort ge-
funden, wo die andere lag und hat sich
dort niedergelegt, um zu sterben. Das
war das Ganze. Vielleicht haben sie das
ganze Leben hindurch einander mit den
Stacheln gestochen. Oder sind es nur die
Menschen, die ihr eigenes Geschlecht
stechen?

Jetzt lagen sie jedenfalls friedlich
neben einander.

Sie lagen da, die eleganten Hinter-
theile nach innen gekrümmt. Es war fast
wehmüthig, sie anzusehen. Diese feinen,
runden, reizenden Pariser-Tournuren, die
gewiss draußen unter den Mondainen des
Insectenreiches Aufsehen erregt hatten,
diese spitzen, geschliffenen, schlanken Flügel.

Waren es Monsieur et Madame?
Gott weiß — —

DIE KÖNIGIN.

Gedämpft nur schlüpft des Tages
Licht durch die Malereien der Bogenfenster.
Und es dunkelt mehr und mehr. Dämme-
rung spielt um die Ornamente der Decke.
Gleich einem tiefblauen Schleier winden
sich breite, warme Violoncell-Töne aus dem
Flüstern des Orchesters, winden sich
hinein zwischen schwarze Säulen, hinauf
zu den verzierten Capitälen, winden sich
um die Gedanken der Königin, die leise
fallen, wie die Blätter draußen.

Nur sie ist da. Denn es ist, als em-
pfänden die Spielenden ihre Gedanken,
als glitten die Bogen unbewusst über die
Saiten.

Liebe? Die Königin hat nie geliebt,
nie geküsst. Wen sollte sie lieben, sie, die
Königin?

Wenn die Augen der Männer während
des Tanzes funkelten, dunkel schimmerten,

wie tödtendes Feuer glühten — war das
die Liebe? Wenn hinter ihr zwischen den
Bäumen geflüstert wurde, geschlichen und
gezischelt, während sie einsam gieng, in
Träume versunken, — war das die
Liebe?

Draußen fallen die Blätter. Wie Blätter
waren ihre Tage, wie Blätter, die in
den Träumen fallen. —

Sie erhebt sich. Ihre Augen blicken in
weite Fernen. Still geht sie hinaus, wie
eine, die schläft.

Ohne Gefolge geht sie aus der Stadt,
allein.

Weit, weit fort aus ihrem Lande
wandert sie weit über die lautlose Ebene.
Die Nacht naht. Über die einsame Ebene
wölbt sich der Himmel mit tausend
Sternen. Da fällt sie auf ihre Knie und
streckt ihre Hände empor.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 54, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0054.html)