Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 55

Zwei Skizzen Geistige Heilkunst (Obstfelder, SigbjörnGraevell van Jostenoode, Harald)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 55

Text

GRAEVELL: GEISTIGE HEILKUNST.

— Gott, der du auch Vater meines
Geschlechtes bist! Seit Anfang der Erde
waren meine Mütter Königinnen, so ant-
worte mir: Warum bin ich?

Keine Antwort. Nur schweigsamer ist
das Blau, ruhiger leuchten die weißen

Lichter droben. Und das Wasser zeichnet
ihr Bild: schwarz, mit herunterhängenden
Händen.

Und sie erhebt sich und geht weiter,
mit geschlossenen Lippen, gesenkten
Hauptes.

Deutsch von TYRA BENTSEN.

GEISTIGE HEILKUNST.
Von HARALD GRAEVELL VAN JOSTENOODE (Lüttich).

Franz Hartmann halte ich für einen
der tiefsten Schriftsteller auf deutschem
Boden. Daher nehme ich ein neues Buch
von ihm stets mit großer Erwartung in
die Hand. Auch das kürzlich erschienene
über »die Medicin des Theophrastus
Paracelsus
, vom wissenschaftlichen Stand-
punkte betrachtet«,* das die Fortsetzung
seines »Grundrisses der Lehren desselben
vom religions-wissenschaftlichen Stand-
punkte« bildet, kann auf das höchste In-
teresse Anspruch machen. Hier wird nicht
nur eine volle und schöne Ehrenrettung
des großen, so viel verleumdeten Mannes
versucht — das haben auch schon andere
vor ihm gethan —, sondern es wird zum
erstenmale von einem occult geschulten
Gelehrten, einem Mystiker, eine Erklärung
der dunklen Geheimnisse gegeben.

Hartmann, der selbst Medicin studiert
hat, gibt dem Paracelsus in allem recht
und der heutigen Medicin in allem unrecht.
Er geißelt in den schärfsten Ausdrücken
die moderne Sucht, alles auf rein materia-
listischem Weg finden zu wollen, ohne
Verständnis für die wahre Natur des
Menschen, welche geistig ist. Solche
bittere Wahrheiten hat die heutige Wissen-
schaft ja schon oft von den Theologen
zu hören bekommen. Aber dass auch ein
Nicht-Theologe, ja sogar ein Fachgenosse
so spricht, das ist neu.

Es scheint, wir kommen allmählich in
eine Periode, wo man einsieht, dass die
alten Anschauungen nicht mehr genügen,
dass man neue haben müsse. Sollten die
neuen die alten sein, die man in einer
längst verflossenen Culturperiode gehabt
hat? Sollte Paracelsus mit den seinigen
wieder zu Ehren kommen? Die Welt dreht
sich, und was einmal unten war, kann
daher wieder obenauf kommen. Man hat
schon so oft einen Wechsel in der Wissen-
schaft erlebt, und die überhandnehmende
Kränklichkeit der degenerierten Bevölkerung
lässt auch dem Laien kaum eine andere
Erklärung, als dass die officielle Heilkunst
mit ihrem ausgebildeten Specialistenthum
ihre Aufgabe nicht erfüllt.

»Der erste und höchste Zweck eines
jeden, nach wahrem Wissen strebenden
Menschen« — sagt Dr. med. Franz Hart-
mann
— »sollte sein, zu sich selbst zu
kommen, das Wahre in sich selber zu
finden. Dann würde ihm auch alles andere
offenbar werden. Aber wir leben in einer
Periode, die nur wenigen Zeit übrig lässt,
sich selber zu finden. Man lebt beständig
außer sich, in einer von anderen Menschen
geschaffenen Gedankenwelt, und der Stu-
dierende der Medicin ist genöthigt, sein
Hirn mit dem dümmsten, wertlosesten und
verkehrtesten Zeug vollzupfropfen, damit
er sein Examen bestehen kann, wenn er

* Bei Wilhelm Friedrich in Leipzig.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 55, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0055.html)