Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 56

Geistige Heilkunst (Graevell van Jostenoode, Harald)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 56

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GRAEVELL: GEISTIGE HEILKUNST.

auch dabei völlig von dessen Wertlosig-
keit überzeugt ist. Einen eigenen Gedanken
zu haben ist erfahrungsgemäß auf den
meisten unserer Universitäten verpönt. Da
wird nur nach der Schablone vorgegangen
und anstatt Ärzte werden Automaten ge-
bildet Die moderne Medicin ist auf
große Abwege gerathen. Die vom Staate
privilegierten und in ihren Selbstinteressen
geschützten Classen fangen wieder an, wie
zu der Zeit, als Paracelsus lebte, den
Kranken gegenüber nicht mehr als Helfer,
sondern feindlich, als Tyrannen, aufzu-
treten. Sie vergessen, dass die Ärzte wegen
der Kranken und nicht die Kranken der
Arzte wegen vorhanden sind, und dass
die Menschen sowohl als die Thiere eine
höhere Bestimmung haben, als zu Ver-
suchs-Objecten zur Befriedigung der wissen-
schaftlichen Neugierde zu dienen. Wohl
gibt es auch unter den Ärzten noch
Menschen, die nicht nur Gelehrte, sondern
auch Menschen sind, nicht nur im Kopfe,
sondern auch im Herzen Leben haben; aber
die Zahl derjenigen, welchen jedes Gefühl
für die Heiligkeit des Lebens abhanden ge-
kommen ist, scheint täglich zuzunehmen.«

Dies sind gewiss harte Worte, und
sie treffen nicht allein den ärztlichen Stand,
sondern mehr oder weniger unsere ganze
Zeit. Die Mediciner folgen heute nur der
Zeitströmung. Kennt die Wissenschaft keine
Seele mehr, begnügt sie sich nur mit
Phänomenen und überlässt alles weitere
der Metaphysik, auf die sie noch dazu
mit spöttischer Verachtung herabblickt,
dann ist es nicht zu verwundern, dass sie
trotz ihrer scheinbaren Blüte an Sterilität
leidet. So war es auch in den Tagen des
Paracelsus.

»Philosophie, Astronomie und Alchemie
sind die Grundsäulen der Kunst und Wissen-
schaft eines jeden Arztes, und wer auf diese
drei Gründe nicht baut, dessen Arbeit nimmt
der Wind hinweg. Wenn mir auch die hohen
Schulen nicht folgen, so ist das ihre Sache;
sie werden noch niedrig genug werden. Ich
will es euch dermaßen erläutern und fürhalten,
dass bis auf den letzten Tag der Welt meine
Schriften bleiben und wahrhaftig, und die
eurigen von den Leuten gehasst sein werden.
Es ist nicht mein Wille, dass ihr (euer System)
in einem Jahre schon sollt fallen lassen, sondern
ihr müsst nach langer Zeit eure Schande selbst
eröffnen. Mehr will ich richten nach meinem
Tode wider euch denn vorher. Der Theophrastus
wird euch kriegen auch ohne Leib.«

Diese prophetischen Worte des Para-
celsus haben sich erfüllt. Seine Schriften
werden drei Jahrhunderte nach seinem
Tode gelesen und werden einen großen
Einfluss auf die kommende Generation aus-
üben, während man von den damaligen
Quacksalbern nichts mehr weiß. Nach
seinem Tode ist er lebendiger denn je
und tritt als Richter auf über seine und
unsere Zeitgenossen.

Was ist nun der Fundamental-Unter-
schied zwischen dem System des Para-
celsus und dem der Modernen? Ich will
im folgenden so kurz als möglich das
zu zeigen suchen und verweise jeden, der
sich näher dafür interessiert, auf das Werk
Hartmanns, von dem ich übrigens glaube,
dass es für solche, die sich noch nie mit
theosophischen Schriften befasst haben,
oft schwer zu verstehen ist.

Paracelsus hat manchmal in seinen
Schriften nicht alles erklärt, was er wusste,
und zwar »von wegen der Idioten«. Er
hielt die Durchschnittsmediciner nicht für
reif genug, ihn zu verstehen. Ob er heute
offener wäre, ist die Frage. In der Natur
sind so viele geheime Kräfte verborgen,
die man missbrauchen kann, wie man aus
den wieder in Schwung gekommenen Ver-
suchen mit Suggestion und Hypnotismus
ersehen kann. — Paracelsus verlangt vor
allem, dass der Arzt selbst geistig und
moralisch hoch stehe. Er hält die Weisheit,
das eigentliche Wissen nicht abhängig
vom Auswendiglernen, das man durch
ein gutes Examen documentiert, sondern
er verlangt, dass der Arzt innerlich so
fortgeschritten sei, dass er das Wesen
der Dinge erkenne. »Die Philosophie ist
der Schlüssel zur Erkenntnis der Wahrheit.
Der richtige Philosoph erkennt das Innere
durch das Äußere, so wie ein Gärtner, der
den Samen sieht, auf den ersten Blick
weiß, was für ein Baum daraus wird.«
Also muss der richtige Arzt eine Kenntnis
haben, die ihm mehr von innen als von
außen kommt. Wie tief Paracelsus selbst
in die Natur eingedrungen ist, sieht man
aus seinen Definitionen und Behauptungen.
Wir aber sind dahin gekommen, statt der
Einheit der Wissenschaft, wie sie im
Mittelalter bestand, viele verschiedene
Wissenschaften anzunehmen, und glauben
so weit über jene dunkle Zeit fort-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 56, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0056.html)