Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 58

Geistige Heilkunst Der Mensch im Futteral (Forts. und Schluss) (Graevell van Jostenoode, HaraldTschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 58

Text

TSCHECHOFF: DER MENSCH IM FUTTERAL.

All-Geist in sich denken lässt, öffnet sich
der Intuition und quält sich nicht mit
Hirngespinsten; eine Lunge, durch welche
der Geist Freiheit und Reinheit athmet,
wird dadurch gesund. Dergleichen lässt
sich auf poetische Art andeuten, und
Poeten begreifen es; die hölzerne Wissen-
schaft hat kein Verständnis dafür.« —
Die Ärzte müssten also zu Poeten werden,
sie müssten mehr mit der Intuition und
dem Herzen sehen als mit dem haus-
backenen Menschenverstand.

»Der Arzt muss« — sagt wieder Para-
celsus
— »ohne Augen sehen und ohne Ohren
hören können. Das, was den Sinnen verborgen
ist, enthüllt sich dem Auge des Glaubens, und
aus der Kraft des Glaubens entspringen die
Werke. Um das zu sehen, was ein jeder Fuhr-
knecht sehen kann, braucht man kein Arzt
zu sein.«

Nur wer den Makrokosmus gut kennt,
versteht auch den Mikrokosmus, die Natur
des Menschen. Daher muss es das Be-
streben der Männer der Wissenschaft sein,
in die verborgenen Tiefen des Kosmos
einzudringen, um auf diese Art den
Menschen verstehen zu lernen. Aber nur
wenn man sich selbst vergeistigt und
versittlicht, gelangt man zu höheren
Sphären.

Den Seinen gibt’s Gott im Schlaf,
sagt ein altes Wort. Das ist so wahr,
dass mancher einfache Schäfer, der im
Einklänge mit der Natur und nach dem
Herzen Gottes lebt, oft ein geschickterer
Arzt ist, als einer mit seinem Diplom.

»Die höchste Kunst« — sagt Paracelsus
— »und das höchste Wissen besteht darin,
innerlich zu erwachen und die Weisheit zu
finden. Darin aber besteht unsere Weisheit
auf Erden, die von Gott kommt, dass wir
gegen einander leben, wie die Engel im
Himmel, denn dann sind wir auch Engel.«

Die alte Weisheit des Paracelsus
wird auch die der Zukunft sein. Wir
müssen davon abgehen, den Menschen
mit rein äußerlichen Einwirkungen heilen
zu wollen. Christus heilte Kranke durch
Handauflegen. Er war der vollkommene
Mensch und daher auch der vollkommene
Arzt. Er erweckte auf geistigem Wege —
von innen heraus — die Lebenskraft, und
sie durchdrang wieder siegreich die kranken
Organe. Ich glaube, dass man mit der
Liebe beinahe alles heilen kann. Wo
reine, keusche, ewige Liebe ist, da ist
Gott. Gott ist die Liebe. Die Liebe ist
das beste Heilmittel. Auf ihrem Wirken
beruhen die Wunder der alten und der
neuen Heilkunst.

DER MENSCH IM FUTTERAL.
Von ANTON TSCHECHOFF (Moskau).

(Fortsetzung und Schluss.)

»Frau Director besorgt eine Loge im
Theater — und wir sehen, in dieser
Loge sitzt Warinka mit aufgespanntem
Fächer, strahlend, glücklich, und neben
ihr sitzt Belikoff, klein, zusammengekauert,
gerade als ob man ihn mit Zangen aus
dem Hause herausgezerrt hätte.

Ich gebe eine kleine Gesellschaft, und
da bestehen die Damen darauf, dass ich
unbedingt auch Belikoff und Warinka
einlade. Mit einem Worte, die Maschinerie
war im Gange. Es stellte sich heraus, dass
Warinka durchaus nicht abgeneigt wäre,
sich zu verheiraten.

Bei ihrem Bruder führte sie ein nichts
weniger als angenehmes Leben, den ganzen
Tag stritten und zankten die beiden mit-
einander, so oft man zu ihnen kam.
Ein solches Leben musste ihr selbstver-
ständlich überdrüssig geworden sein, außer-
dem hatte sie doch das Alter, in dem man gern
in seinem eigenen Heim ist; das muss auch
in Betracht gezogen werden. Da hört man
denn auf, wählerisch zu sein, man nimmt
den ersten besten, sogar einen Lehrer der
griechischen Sprache. Überdies, wen nehmen
unsere jungen Damen nicht! Wenn sie sich
nur verheiraten können! Wie dem nun

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 58, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0058.html)