Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 100

Ferdinand Bonn* Lionardo da Vinci von Otto Sachs* (Lindner, AntonLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 100

Text

NOTIZ.

Das Haarsträubendste, Geschmack-
loseste und Antiquierteste aber ist, dass
wir als causa movens dieser pseudo-kotzebue-
schen Pastete, als punctum saliens aller Ver-
wicklungen, Aufregungen, Grimassen und
Gickse zwei Missverständnisse, resp.
Mentalreservationen hinnehmen müssen,
die (wie vor 150 Jahren in deutschen
Possen) als treibende Geheimkraft aller
Rädchen, Fädchen, Federchen und Speichen
fungieren. Schließlich erbricht sich das
Laster, und triumphierend setzt sich die
Tugend an den Tisch. Als Tugend aber
wird uns jenes japanische Reptil auf-
disputiert — ein glattzüngiges Lebkuchen-
gesicht, das heimtückisch moralisiert und
zu jesuitischen Kniffen greift, um Bühnen-
Conflicte zu ermöglichen. So zerfällt
schließlich aus scenisch-technischer Un-
beholfenheit — ganz wider den Willen
des Autors — auch die moralische Logik
des Stückes.

Zwar, es war kein übler Gedanke, eine
jener schwarzen schlitzäugigen Sammet-

Ratten aus Tokio, die unsere deutschen
Universitäten und Seciersäle überfluten,
auf die Lustspiel - Bühne zu bringen.
Aber dann hätte Herr Bonn, der Autor,
mit den Augen des Satirikers um sich
schauen, mit Künstlerhänden zugreifen
und alle schmierige Witzhaftigkeit bei-
seite lassen müssen. Wenn er aber nur
einem sogenannten Zeitbedürfnisse ent-
gegenkommen und die Liebhaberei für
Japan fructificieren wollte, die jetzt fast
allenthalben die dicksten Parvenükreise in
nachgerade widerwärtiger Weisebeschäftigt,
dann hat er — wirtschaftlich gesprochen
— gut speculiert. Hoffentlich kommt er
uns also nächstens mit einem Transvaaler
Burenstück. Denn an der Hand eines schein-
heiligen Bibel-Buren inmitten europäisch-
civilisierter Bratenröcke lässt sich mit Hilfe
etlicher reservationes mentales das Seume’sche
»Seht, wir Wilden sind doch bessere
Menschen« noch weit tantièmensicherer
illustrieren.

ANTON LINDNER.

NOTIZ.

Die Arbeit über Lionardo da Vinci
von Otto Sachs (S. 84 ff.), die als um-
fassende Monographie geplant war, hat in der
vorliegenden ersten Fassung leider nur den
Charakter eines — seiner ganzen Anlage nach
— beziehungsreichen Fragments. Diese An-
lage ist wohl zum Theil aus der Disposition
des einleitenden Capitels ersichtlich, die sich
— in Bleistift flüchtig aufs Papier geworfen
— unter den Excerpten und Studienblättern
des Nachlasses vorfindet. Sie lautet:

1. Der fremde Künstler. (Wenn sein Werke
auch zu allen reden, redet er doch nur zu
wenigen.)

2. Lionardo als Universalmensch.

3. Als solcher ist er die Verkörperung des
Ideals der Renaissance.

4. Aber er, der dieses Ideal erfüllte, gieng
auch zugleich darüber hinaus (Gesetz!) und
vernichtete es in sich. In sich wandte er sich
von ihm ab und wurde ihm fremd. Das Streben
der Renaissance gieng auf die Action hin, auf
das Äußere, auf die Form. Sein Problem war
das der Erkenntnis, des Inneren, der Sache.

5. Renaissance-Ideal: der nach allen Seiten
vollendete Mensch.

Modernes Ideal: das Ideal jenes Menschen,
der über sich a) als Individuum und dadurch

b) als Gattung hinausstrebt; der aus Liebe
zum Kommenden lebt und arbeitet.

Versuch der Erfüllung dieses Ideals durch
den geistigen, wissenschaftlichen Menschen.
»Ich-Erhöhung.«

6. Davon ein Keim in Lionardo. Indem
er nur sich nachgieng, fand er das neue Ziel
in sich.

7. Er hat das »Heilige« (Michelangelo,
Raphael) überwunden. Es gibt kein »Heiliges«
mehr. Es soll ausgedrückt werden, was noch
nicht abgestempelt, noch nicht »poetisch«,
»malerisch« ist, daher die Versuche im Tech-
nischen; die alte Technik genügt nicht. »Ori-
ginalitätssucht.«

8. Lionardo als Gelehrter und Künstler
— nach beiden Gesichtspunkten — das neue
Genie.

Hier schließt die Disposition zu der Ein-
leitung des Werkes, das sich m. W. auf einen
starken Band erstrecken und die Früchte
jahrelanger Studien und Reisen aufnehmen
sollte. Otto Sachs ist der Verfasser eines
eigenartigen Novellenbuches (»Von zwei Ge-
schwistern«, »Ein Mord«), das im Jahre 1898
im Verlage Schuster & Loeffler, Berlin, er-
schienen ist. Der gleiche Verlag wird ge-
legentlich den Nachlass des Dichters heraus-
geben. A. L.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. —Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 100, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0100.html)