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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 99

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THEATER.

scheinbaren Gegenpole, die sich in Wahr-
heit tausendfältig ergänzen, geschwisterlich
stützen, erziehen, beeinflussen und in ihrer
Wirksamkeit ablösen. Man denke beispiels-
weise auch an die bewusste und »kalte
Manier« des Schauspielers, die Laube
bei aller inneren Wärme wünschte, an
den bewussten und »vornehmen An-
stand«, den Schröder und Iffland bei aller
Leidenschaftlichkeit haben wollten, oder
an die Forderung Goethes, dass der Schau-
spieler nicht in seiner, sondern stets ein
klein wenig über seiner Rolle stehen
müsse, um so die Zuschauer geflissentlich
empfinden zulassen, dass alles Theatralische
im Grunde doch nur Illusion sei, über die
sie sich bewusst erheben könnten, ohne
die Freude am Illusorischen dadurch schon
zu verscheuchen.

Im übrigen aber erinnere man
sich, dass die deutsche Kritik das
nämliche Aut — Aut (Gehirn oder Ge-
müth) auch Mitterwurzern an die Brust
gesetzt hat, in den Siebzigerjahren
namentlich, als er allgemein wie ein Hans-
wurst tractiert und fürwitzig beschimpft
wurde. Nun ist Bonn allerdings kein
Mitterwurzer, denn er reicht ihm kaum
bis an die Kniekehlen. Auch Kainz ist
kein Mitterwurzer, denn er reicht ihm
kaum bis an die Hüften. Aber Kainz und
Bonn, sie beide, sind heute — scheint es —
die einzigen deutschen Schauspieler, die
— weit entfernt, ihn zu erreichen — in
die Entwicklungs- Linie dieses großen
Meisters immer merklicher einlenken
und (inmitten correcter Pflichtkulis und
schwerfüßiger Ensemble-Greise) gleich-
sam Flammen aus den Nüstern blasen, mit
den Hufen scharren, Schwerter schlucken,
also, mit einem Wort, den Kopfsprung
des Gauklers, des souveränen Gauklers,
in eine stagnierende Atmosphäre wagen,
die an Beamtenhaftigkeit und Alters-
schwäche nachgerade zu ersticken droht.
Da wir nun heute an derlei Fakiren und
Feuerfressern — mehr sind sie nicht! —
große Noth leiden und vielleicht nur durch
diesen Einschlag ins Varietehafte, durch
Pirouetten und Clown-Capriolen (die andern-
falls sehr zu verurtheilen wären) aus derTräg-
heit und Schläfrigkeit der heutigen deutschen
Schauspielkunst herausgerissen werden
können, sollte man namentlich bei uns

zulande einem Contorsionisten und Quer-
kopf, wie es Bonn ist, der Schlangen-
mensch, für seine Pfauenräder und Volten
Dank wissen, weil sie nützlich sind, und
in Erwägung dieser ungewöhnlichen Zu-
stände den Versuch wagen, ob sich nicht
durch eine neuerliche Verbindung mit
ihm und mit ähnlichen Gauklern dem
marastischen Burgtheater einige Unzen
frischen Blutes und Quecksilbers zuführen
ließen.

Als interessanten Gaukler also kann man
Bonn respectieren. Wo er aber seine genie-
meierische Disposition missbraucht, um
sich als Dichter oder Moral-Apostel zu
geberden, wird man ihn umso schroffer
in seine Manège zurückweisen müssen.
Das Publicum allerdings ist anderer
Meinung — und wo es Heu sieht, muss
es wiehern. So hat es auch bei »Kiwito«
gewiehert.

Mit der aufdringlichen Einfältigkeit
Hoffmann’scher Jugend-Erzählungen wird
hier der Aftercultur Europas die unbe-
fleckte Tugend Ost-Asiens entgegengestellt.
Die Aftercultur Europas, die bekanntlich
zum Himmel stinkt, schematisiert sich in
einer verlotterten Beamtenfamilie Neu-
Berlins: in einer durchaus verruchten
Beamtenmutter, einer durchaus verruchten
Beamtentochter, einem durchaus verruchten
Beamtensohn. Die unbefleckte Tugend
Ost- Asiens aber personifiziert sich in
einem säbelbeinigen Japaner, der in
regelmäßigen Intervallen von drei zu
drei Minuten je einen Liter Edelmuth
ausschwitzt und mit süffisanter Über-
legenheit bis an die Ohrklappen gefüllt
ist. Hie Berlin — hie Yokohama! Es
ist klar, dass diese Confrontation zweier
Culturcentren unter dem Vorsitze eines
dichtenden Schauspielere (wenn er nicht
gerade Shakespeare oder Molière heißt)
nur zu niedlichen Scherzen führen kann,
unter denen Wendungen, wie: »Dieses
Mädchen ist ein Waisenknabe« oder Ein-
fälle, wie die orchestrale Mitwirkung
eines morschen Sophas, das bei jedem
Sitzversuch einen tiefen Basston von sich
gibt, vielleicht noch die witzigsten sind.
An Nestroy und Raimund, die gleichfalls
nur »dichtende Schauspieler« waren, will
ich Herrn Bonn nicht erinnern.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 99, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0099.html)