Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 97

John Ruskin* Hof-Operntheater: »Es war einmal «* (Schölermann, W.Graf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 97

Text

THEATER.

werden.* Am klarsten hat er sie viel-
leicht in seiner Abhandlung über »Kunst
und Moral
« ausgesprochen.** Es
empfiehlt sich überhaupt, anstatt über
ihn zu schreiben, ihn zu lesen, obwohl
seine Bücher ebenso zahlreich wie um-
fangreich sind. Eine Übersetzung seiner
Gesammtwerke (die in Berlin in Vor-
bereitung sein soll) wird den deutschen
Lesern daher sehr willkommen sein. Seine
Werke umfassen siebzig Bände. Mit
24 Jahren schrieb er als Oxford graduate
(Student) das erste Capitel seiner »Modern
Painters
« und gerade 24 Jahre später
begann er an derselben Universität seine
erfolgreichste Lehrthätigkeit mit den Vor-
trägen über Kunst. (Lectures on Art.)
Mit dem Werke »Unto this last«
betrat er den Kampfplatz als Social-
reformer, um ihn nicht wieder zu verlassen,
bis er alles gesagt hatte, was er musste.
»Ethics of the Dust«, »Sesame
and Lilies
« und das zweibändige Werk
»Fors clavigera« bezeichnen die Bahn,
die er durchmessen und auf der ihm die
wenigsten Zeitgenossen folgen konnten.
Diese Werke kennzeichnen den Mann im
Gegensatz zur Zeit-Entwicklung
.
Als er seine Artikel zuerst im »Cornhill
Magazine« und darauf in »Frazers« ver-

öffentlichte, weigerten sich die beiden
Herausgeber, infolge des »Entrüstungs-
sturmes«, den seine Gedanken erregten,
die Veröffentlichung derselben fortzusetzen.
Das hat ihn nicht abgehalten, den »Drachen
der öffentlichen Meinung« mit einer eigen-
thümlichen Mischung von Unduldsamkeit
und Duldsamkeit weiterzubekämpfen, bis
ihn, 20 Jahre vor seinem Tode, eine Art
Lähmung befiel, die ihn zwang, sein Lehr-
amt niederzulegen und vom öffentlichen
Schauplatz überhaupt ganz zurückzutreten.
»Arme Hand«, sagte er zu einem Freunde,
der ihn einst auf seinem Landsitze be-
suchte, »sie hält die Feder nicht mehr.
Vielleicht ist es auch jetzt besser so —
denn sie hat mich in viel Ungemach und
Streit gebracht«.

Der Amerikaner Mathew Arnold hat
über Ruskin — der auf Wunsch seines
Vaters (eines Weinhändlers, der mit dem
Verkauf von Sherry ein Vermögen ge-
macht hatte) ursprünglich Dichter werden
sollte — einen Ausspruch gethan, der den
Menschen Ruskin vielleicht am treffendsten
charakterisiert: »Er suchte die Schönheit
im Guten und er war bestrebt, in Prosa
auszusprechen, was eigentlich nur die
Poesie auszudrücken vermag«.

KIEL. W. SCHÖLERMANN.

* Vgl. »Wiener Rundschau«, III. Jahrg., Nr. 7, S. 156 ff.

** Vgl. »Wiener Rundschau«, III. Jahrg., Nr. 9, S. 213 ff. und Nr. 10, S. 240 ff.

THEATER.

Hof-OperntheaterEs war ein-
mal « von Alexander v. Zemlinsky.
Mit ihren letzten großen Erfolgen (Hänsel
und Gretel, Bärenhäuter) ist die Entwick-
lung der neueren deutschen Oper beim
Märchenspiel angelangt. Mit diesem glück-
lichen Werke ist sie weiter geschritten.
Das Märchenhafte ist hier nur Kleid, Hülle,
Decoration. Das Wesentliche ist Menschen-
schilderung, Psychologie, innere Ent-
wicklung. Die seelische Wandlung einer
launischen, kokett-nervösen Prinzessin zum
Weibe, das Reifen und Erstarken eines
verzogenen Kindes. Die Heiligung durch
Liebe und Leiden bilden den Kern des

Ganzen. Die märchenhaften Motive treiben
die Handlung nach vorwärts, schaffen
die Peripetien, geben dem Ganzen
Leichtigkeit, Grazie, Bewegung und den
Reichthum einer kleinen Welt. Es ist ein
entzückender Einfall, wenn am Schlüsse
des Ganzen gleichsam der Vorhang vor
dem Spiele zusammengezogen und das
Ganze zur Realität verwandelt wird:

»Nun aber hört: Wir sind am Ziel,
Das Ganze war ein Märchenspiel.«

Zwei Dinge bieten dem Componisten die
größten Schwierigkeiten. Es muss ihm
gelingen, schrittweise mit der seelischen
Wandlung der Heldin die Musik an Tiefe,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 97, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0097.html)