Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 94

Zeitgenössische englische Malerei Die Renaissance des Keltenthums (Drews, Arthur, Prof.Graevell van Jostenoode, Harald)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 94

Text

BÜCHER.

national, sie will englisch sein. Sie ist
aus einer gewaltigen Anstrengung heraus,
aus einer hohen und wunderbar hart-
näckigen Verfolgung des Edlen, Philo-
sophischen und Nationalen geboren worden.
Sie ist nicht, wie die französische Kunst
und die Kunst anderer Länder, spontan
aus der Freude an der Bewunderung,
dem Genuss des Schauens, dem Glück der
Vergessenheit heraus entstanden, um die
plastische Pracht der Natur und der Lebe-
wesen zu verherrlichen. Aus dem nationalen
Leben und den nationalen Schwärmereien
ist sie hervorgegangen, und schöpft ihre
Gedanken, Inspirationen, Gefühle und
Vorurtheile aus der intelligentesten Classe
ihres Vaterlandes. »Ihre Meister sind
autonom, sind angelsächsisch und britisch,
offen, frei, ohne Hehl; und wenn es
wahr wäre, dass ein großes Volk, das
sich auszudrücken sucht, natürlicherweise
eine große Kunst hervorbringt, so wäre
die englische Kunst die bewunderns-
werteste unter allen zeitgenössischen

Künsten.« Aber eine derartige Kunst hat
auch ihre großen Schattenseiten, welche
eben die Fehler ihrer Tugenden sind,
und Sizeranne ist nicht blind ihnen gegen-
über und warnt vor allem davor, jene Werke
nachzuahmen. Es sind goldene Worte,
die er über die Nachahmung von Kunst-
werken vorbringt, wie denn überhaupt
dieser letzte Theil seines Werkes zu dem
Besten gehört, was neuerdings über Kunst
geschrieben worden.

Nach der ganzen Art des Buches
kann man die Übersetzung desselben ins
Deutsche nur willkommen heißen. Sie
scheint, soweit sich das ohne Hinzu-
ziehung des französischen Textes be-
urtheilen lässt, im ganzen wohl gelungen,
und macht sogar stellenweise völlig den
Eindruck eines Originals. Da das Werk
im Verlage von Bruckmann erschienen ist,
bedürfen sowohl die äußere Ausstattung,
wie der Bilderschmuck keines besonderen
Lobes.

BÜCHER.
Von HARALD GRAEVELL VAN JOSTENOODE (Lüttich).

Leonard Buyst: Nieuwe Ge-
dichten. Brüssel, Dehou, 1899. Jef
Mennekens Naar den Zomer
. Lebeke
1899.

Die junge vlämische Literatur ist noch
beinahe ganz unbekannt in Deutschland.
Und doch wäre es wünschenswert, dass
die Hochdeutschen innigen Antheil nähmen
an ihren Stammesbrüdern. Ich erlaube
mir daher, den Blick auf zwei soeben er-
schienene Gedichtsammlungen zu lenken,
die von zwei Mitgliedern der Brüsseler
Kunstgenossenschaft DE DISTEL heraus-
gegeben worden sind. Der eine ist schon
alt, ein Veteran im Streit für vlämisches
Wesen gegen die Verfranschung, ein
wanner Freund Deutschlands und ein be-
gabter lyrischer Dichter, der sich vom
Stande eines ganz armen Maurers herauf-
gearbeitet hat zum Beamten im Ministerium,
ein Autodidakt, der sich selbst Englisch,
Deutsch und Französisch gelehrt hat. Der
andere ein noch ganz junger Mann mit

den Anschauungen eines zarten Jünglings,
der den ersten bitteren Liebesschmerz er-
fährt und die Welt mit den Augen des
Heine’schen Weltschmerzes betrachtet.
Beide zusammen (der Alte mit der Harfe,
dem der blühende Genosse zur Seite
schreitet in Uhlands unsterblichem Ge-
dicht), repräsentieren gut das heutige
Vlamland, die alte und die neue Gene-
ration.

Mennekens hat großes Talent. Wir
werden uns wohl noch öfter mit ihm zu
beschäftigen haben. Denn seine Frucht-
barkeit in Versen ermöglicht, wenn er so
fortfährt, eine große Anzahl poetischer
Werke. Daher wenden wir uns heute
lieber zu Buyst, der in seinem Büchlein
poetischen Abschied von seinen Lesern
nimmt. In seinem »Naklank«, dem letzten
Sonett, gibt er seinem Gefühle der Weh-
muth Ausdruck, dass es ihm nicht ver-
gönnt war, Größeres zu leisten; aber er
hofft, dass sein Volk ihn deshalb nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 94, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0094.html)