Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 93

Zeitgenössische englische Malerei (Drews, Arthur, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 93

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DREWS: ZEITGENÖSSISCHE ENGLISCHE MALEREI.

befindet.« Es ist ja leider nur ein allzu
berechtigter Stolz des Franzosen, zu
meinen, »wenn man eine ästhetische
Karte der Welt darstellen wollte, d. h.
eine Karte, auf der die Einflüsse der ver-
schiedenen Kunstrichtungen verzeichnet
wären, so müsste man die Farbe Frank-
reichs auf alle oben genannten Gegenden
ausdehnen, als ob es Colonien der franzö-
sischen Kunst wären.« Nur die britische
Insel macht hiervon, wie gesagt, eine Aus-
nahme. »Es gibt deutsche, ungarische,
belgische, spanische, skandinavische Maler,
aber es gibt eine englische Malerei

Die Darstellung der sieben Hauptmeister
dieser Malerei muss dazu dienen, das
Wesen der letzteren zu illustrieren. Diese
sieben Abhandlungen, die den Kern des
Buches bilden, sind zum Theile kleine
Meisterwerke der Charakterisierungskunst,
voller Geist, Gefühl und Leben, wie sie
nur ein Franzose zustande bringt, fast
nirgends erschöpfend, aber doch immer
auf das Wesen zielend. Wie fein und
treffend ist z. B. die Charakteristik
einer so complicierten Künstlerpersönlichkeit,
wie derjenigen von Burne-Jones, über
welchen Sizeranne nicht ohne einen An-
flug von Ironie bemerkt, dass er den
Florentinern vor Raphael ihre körperlichen
Reize abgelauscht und, als echter Sohn
des Nordens, diesen schon etwas die
Renaissance streifenden, kräftigen, fast
classischen Kindern des Südens den
fatalistischen, melancholischen und pes-
simistischen Geist Byrons eingehaucht
habe: »Er behext diese zum Lachen ge-
schaffenen Italiener und macht aus ihnen
düstere Gestalten Merlins. Er lässt donatelli-
sche Gestalten swinburnischeVerse sprechen.
Seine Gestalten haben schon die Muskeln
der Renaissancefiguren und machen noch
die Bewegungen der von den primitiven
Meistern dargestellten Personen. Die
Schönheit vollendet sich schon, ehe sie
vollkommen entfaltet ist; man könnte fast
sagen, sie kennt sich selbst noch nicht
und will sich verbergen; Botticelli
weint, Mantegna hat den »Spleen«,
Burne-Jones ist erstanden.«

Und worin besteht nun das Wesen
der englischen Malerei? Der Verfasser
rindet es zunächst in der Intimität der
Motive, in der Eigenart der Geberden,

resp. der Intensität des Ausdruckes, sowie
in dem Adel der Haltung. Dazu kommt
sodann als besonders charakteristisches
Merkmal, dass die Engländer bei ihrem
Streben nach kraftvoller und lebhafter
Farbengebung die Gesetze der Farben-
werte zu einander außeracht lassen und
vor schreienden Farbendissonanzen nicht
zurückschrecken, ein Mangel an Harmonie der
Farben, den Sizeranne sehr einleuchtend
aus der Natur der englischen Luftverhältnisse
erklärt. Wie in ihrer Philosophie, sind
die Engländer auch in ihrer Malerei
wesentlich Analytiker; sie sind groß im
Zerlegen der Farben und in der peinlich
genauen Wiedergabe aller einzelnen Gegen-
stände, die zur Verdeutlichung eines
Sujets dienen, aber es fehlen ihren Werken
ebenso die Luft und Atmosphäre, welche
die Synthese der Farben bedeuten, wie
die großen Contouren der Zeichnung,
welche die Synthese der Form darstellen.
Der Grund hievon ist nach dem Verfasser
vor allem darin zu suchen, dass die
Engländer mit ihrer Kunst ein bestimmtes
Ziel verfolgen. »Dieses Ziel besteht darin,
sich an alle Fähigkeiten des Menschen
zu wenden, an den Geist, Verstand, das
Gedächtnis, das Gewissen und das Herz,
und nicht nur an jene Fähigkeit unseres
Wesens, welche sieht, sich durch den
Anblick rühren lässt und den Gedanken
des Bildes nur ahnt oder erräth.« Aber
die englische Kunst soll keineswegs nur
einfach didaktisch sein; vielmehr soll sie,
indem sie uns durch das Kleine, Unschein-
bare lehrt, wie bewunderungswürdig die
Schöpfung ist, uns zur Anerkennung
und Anbetung des Schöpfers erheben.
Hier gibt es daher auch keine »Kunst
bloß für Künstler«, wie sie als neueste
Modethorheit jetzt auch bei uns in Deutsch-
land eingeführt ist. »Für einen ehrlichen
Künstler,« sagt einer der Wortführer der
englischen Kunst mit Recht, »ist es eine
Schande, das allein zu genießen, was er
selbst geschaffen hat, geradeso wie es
eine Schande für einen reichen Mann
wäre, ruhig und behaglich zu leben und
reichlich zu essen, umgeben von Soldaten,
die in einem belagerten Walde Hungers
sterben.« Die Kunst jenseits des Canals
will aber nicht bloß suggestiv, didaktisch
und populär, sie will vor allem auch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 93, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0093.html)