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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 168

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GRAEVELL: DIE RENAISSANCE DES KELTENTHUMS.

Es scheint, als ob die Kelten sich
hauptsächlich von der Phantasie leiten
ließen. Diesen Eindruck machen schon
die Gallier zu Cäsars Zeit. Das haben sie
mit den meisten Slaven, wenigstens mit
den Polen, gemein, mit denen sie möglicher-
weise näher verwandt sind, als man denkt.
Die Phantasie spielt aber unter Umständen
in der Politik eine Rolle. Den Deutschen,
die wenig Phantasie zu haben pflegen, ist
das unbegreiflich. Aber man braucht nur
die neuere französische Geschichte durch-
zugehen, um die ungeheure Rolle der
Phantasie würdigen zu können. Es waren
wesentlich phantastische Gedanken, Wün-
sche und Vorstellungen, welche die fran-
zösischen Heere begeistert haben, vom
Gedanken der Wiedererlangung des Rheines
an, der zu Zeiten Cäsars (!) einmal die
Grenze war, bis zur Einführung einer all-
gemeinen demokratischen Republik.

Je toller und unmöglicher die Pläne
sind, desto mehr wirken sie. Die Be-
geisterung steht hier im umgekehrten Ver-
hältnis zur Ausführbarkeit. Solche phanta-
stischen Gebilde, von keltischen Fanatikern
aufgestellt und verbreitet, können auch
heute noch in unserer so nüchternen Zeit
Wunder wirken. Sie können sogar den
Einfluss der Wirtschaftspolitik aufheben.
Wir sind heute gewohnt, zu glauben,
alles müsse von der socialen Frage be-
herrscht werden. Selbst unsere Historiker
stellen jetzt die Geschichte so dar, als sei
sie nur hervorgerufen und beeinflusst von
wirtschaftlichen Problemen. Aber der
Kelte empfindet ganz anders. Er hat nicht
den positiven, nüchternen, auf das That-
sächliche gerichteten Sinn des echten
Germanen. Er ist der Poet in der Politik.

Man sehe die ganze Geschichte der
Geistesbewegungen durch seit dem Auf-
kommen des Christenthums! Überall ent-
stehen sie auf keltischem Boden. Die
Kreuzzüge wurden von den Galliern be-
gonnen und beendet. Die Deutschen be-
theiligen sich nur langsam und beinahe
widerwillig. Die religiösen Bewegungen,
die neuen strengen Orden, die Jesuiten,
die Gegenreformation, die Revolution, die
Moden, die neuen Ideen in der Literatur
und Kunst — alles wird vom keltischen
Geist inspiriert. Der Kelte hat beinahe
immer die Anregung gegeben, die dann

der Germane geistig vertieft hat. Dem
Deutschen gelang nie »der gallische
Sprung«.

Es wird von Richelieu erzählt, dass
er einst mit der Königin-Witwe Maria
von Medici über wichtige Staatsangelegen-
heiten gesprochen habe. Plötzlich aber
kam ihm der Gedanke, einen cancanartigen
Tanz aufzuführen, was die Königin so
übelnahm, dass sie mit ihm nichts mehr
zu thun haben wollte. Das ist der impulsive
Kelte, der vom Erhabenen im Augenblicke
den Schritt zum Lächerlichen macht.
Während der Deutsche oft die Lust-
barkeiten mit pedantischem Ernst vor-
nimmt, wie ein abgerichteter Tanzbär,
behandelt der echte Kelte oft die ernstesten
Dinge mit genialem Leichtsinn. Der Ger-
mane sieht daher leicht mit Verachtung
und spöttischem Mitleid auf die Kelten;
er meint, sie seien nur gut zu Tanz-
meistern, Kellnern und Barbieren; er ver-
gisst aber, dass der Kelte auch auf einmal
zum Erhabenen kommen kann und dann
der größten Leistungen fähig ist. Trotz
seiner Unsolidität, die ihn am Gründen
eines Staates hindert, hat der keltische
Geist große Momente, wo er sich zu den
Sternen erhebt oder im Blute watet.

Am deutlichsten sieht man den kel-
tischen Geist in der Kunst. Es dürfte
wenige große Künstler gegeben haben,
die nicht keltisches Blut in den Adern
hatten, mag man nun an Shakespeare
denken oder an Schiller, an Victor Hugo
oder an Burne-Jones. Namentlich in der
neuesten englischen Literatur ist der keltische
Einfluss sehr bemerkbar. Chaucer und
Spenser hatten keltisches Blut in den
Adern. Shakespeares Mutter hatte den
Namen Arden und kam von Wales. Burns
war durch seine Kincardine-Vorfahren
wahrscheinlich ein Kelte. Ebenso Bos-
well, Scott, Byron (durch seine Mutter),
Charlotte Brontë und George Elliot
(durch ihren Vater Mr. Evans). Matthew
Arnold hat den Keltismus begünstigt und
der Canadier Grant Allan ist sein glü-
hendster Advocat. Der all pervading Celt
kommt überall zum Vorschein. Es scheint,
dass wir vor einer Art Renaissance des
Keltenthums stehen. Der solange vom
Germanen unterdrückte Kelte rächt sich.
Er bringt den Germanen in seine geistige

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 168, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0168.html)