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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 169

Text

GRAEVELL: DIE RENAISSANCE DES KELTENTHUMS.

Abhängigkeit. — Wer heute nach England
reist, bemerkt überall mit Staunen, dass
die Engländer meist so ganz anders sind,
als er sie sich vorgestellt hat. Er bemerkt
überall statt der geträumten hochblonden
Menschen mit germanischem Typus eine
ganz andere Gattung, die ihre Abstammung
von einer anderen, brünetten Rasse mit
schwarzen Haaren nicht verleugnen kann.
Er bemerkt auch im Auftreten eine große
Ähnlichkeit mit französischen Sitten, eine
Leichtlebigkeit, die namentlich beim Flirt
an alles andere eher erinnert, als an steifes,
zurückhaltendes germanisches Wesen. Es
scheint — wie englische Schriftsteller selbst
berichten — dass der brünette Typus all-
mählich den Sieg erringen wird. Ich er-
innere für die Erscheinung hier nur an
den merkwürdigen Roman »Coningsby« von
Beaconsfield. — In Deutschland ist es
ähnlich. Ein Skandinavier, der nach Süd-
deutschland kommt, wird erstaunt sein,
einen ganz ungermanischen Typus vor-
zufinden, er, der sich vorgestellt hatte,
weil er in der Schule gelernt hatte, die
Deutschen seien Germanen, müsse er alles
mit treuen, blauen Augen und flachsblondem
Haar antreffen. Die neueren Unter-
suchungen der Schulkinder und Recruten
haben das Zurückgehen des germanischen
Typus klar gezeigt.

Der Einfluss des Keltenthums im Mittel-
alter ist leider noch immer nicht genügend
erforscht. Aber das kann man doch fest-
stellen, dass erhabene Gedanken, tiefe
Sagen, wie die vom heiligen Gral, keltischen
Ursprunges sind. Dass in der Form die
Kelten — die Erfinder des Reimes —
von Anfang an den Germanen überlegen
waren, ist leicht nachzuweisen. Noch heute
geht ein Künstler nach Paris, wenn er
Sinn für Form erlangen will. Die schönsten
Melodien stammen aus Keltenland. Man
denke z. B. an die herrlichen Lieder der
Bewohner von Wales. Wie viele davon
nach Deutschland gedrungen sind, ist
schwer zu sagen. Die Jongleurs (jocula-
lores
, Gaukler), die fahrenden Leute,
waren zuerst meist Kelten, und da sie
auch auf deutsches Sprachgebiet herüber-
kamen, so haben sie ihre neuen Melo-

dien auch den Germanen überliefert. Der
große Germanist Grundtvig in Däne-
mark hat z. B. gezeigt, dass die schöne
Volksballade von Olaf, die Herder zum
Theil übersetzt hat (in den »Stimmen
der Völker«), bretonischen Ursprunges ist.
Wie vieles von dem, was wir für echt
deutsch halten, mag keltischen Ursprunges
sein! Man vergesse nicht, dass die schönen
keltischen Frauen den Deutschen gerade
so gefährlich waren, wie das gefälligere,
»galante« Benehmen der gallischen Männer
den deutschen Frauen. Das war so von
den ältesten Zeiten bis zu Heines be-
kanntem Tambourmajor und bis zu der
Anbetung der französischen Kriegsgefan-
genen im Jahre 1870 Der keltische
Geist hat den germanischen beständig
befruchtet und ergänzt. Beide Rassen
sind darauf angewiesen, sich gegen-
seitig zu helfen; sie sind Brüder. Schon
die alten Römer konnten Gallier und Ger-
manen oft nicht von einander unterscheiden,
und von manchen Stämmen weiß man
bis heute noch nicht, ob sie den germa-
nischen oder gallischen zuzuzählen sind.
Der ältere Bruder nun schien zu Gunsten
seines jüngeren, kräftigeren, abgedankt zu
haben. Jetzt reclamiert er wieder sein
Recht der Erstgeburt.

Vor kurzem ist eine interessante Studie
von Heinrich Driesmans erschienen:
»Das Keltenthum in der europäischen Blut-
mischung«*, welche ich empfehlen kann.
Der Verfasser berührt sich in vielem mit
dem Verfasser der Schrift »Deutschland
am Scheidewege«**, der ebenfalls auf das
Vorhandensein des Keltenthums im heutigen
Deutschland hinweist. Doch während
letzterer dem Keltenthum den Vorzug
gibt vor dem slavo-germanischen Preußen-
thum, und einem Bündnisse Süd-Deutsch-
lands mit Frankreich das Wort redet, ist
Driesmans eher Anhänger der preußischen
Mischung, der er das Recht zu herrschen
zuspricht. Beide, gewiss actuelle Schriften
leiden meiner Ansicht nach an Einseitig-
keit und Übertreibung. Sie unterscheiden
nicht scharf genug. Driesmans bürdet den
Kelten alles Mögliche auf, was man ihnen
nicht zum Vorwurf machen kann. Er geht

* Bei Eugen Diederichs in Leipzig und Florenz.

** Bei Cäsar Schmidt in Zürich, 1898.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 169, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0169.html)