Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 125

Mikrokosmos und Makrokosmos (Kniepf, Albert)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 125

Text

MIKROKOSMOS UND MAKROKOSMOS.
Von ALBERT KNIEPF (Hamburg).

Eine große Überraschung für die
moderne Bildung ist die Erneuerung der
Astrologie, jener Lehre von dem Zu-
sammenhang des Menschenschicksals mit
gewissen Wirkungen, mit den Bewegungen
und Aspecten der Gestirne. Man ist im
neunzehnten Jahrhundert beflissen gewesen,
die Astrologie als ein Monstrum von Aber-
glauben und als eine gelehrte Wahr-
sage-Maschine des durch Jahrtausende
irregeleiteten Genius’ der Menschheit dar-
zustellen, natürlich ohne die Sache
überhaupt zu untersuchen
! Hoffent-
lich dämmert aber den modernen Gelehrten
im neuen Jahrhundert, nachdem man nun
weiß, dass es allenthalben unsichtbare und
sehr verschiedenartig wirkende Strahlen
gibt, endlich das Verständnis dafür auf,
wie voreilig sie eine der erstaunlichsten
Errungenschaften der Menschheit ver-
achtet haben.

Überblickt man die gewiss großartige
Entwicklung der physischen und exacten,
besser gesagt, der technischen Wissen-
schaften im neunzehnten Jahrhundert, so
kann man, wenn man nicht ganz innerhalb
der Horizonte dieses Jahrhunderts der
Technik stehen geblieben ist, an eine
Arbeitstheilung der Zeitalter glauben. Denn
ersichtlich ist der Erkenntnisfortschritt des
industriell gewaltigen Jahrhunderts von
einer Zurückdrängung anderer Erkenntnis-
gebiete begleitet gewesen und leidet an
argen Einseitigkeiten; man begreift diese
unter der Bezeichnung des wissenschaft-
lichen Materialismus am besten. Was dieser
Materialismus nicht verstand und wofür
er in seinem Arsenal keine Hebel und
Schrauben besaß, das pflegte er auch zu
ignorieren; es hatte für ihn kein Interesse
und war für ihn nicht vorhanden. Hiezu
kam ein auch sehr materialistischer Geist
in der Wertschätzung der wissenschaft-
lichen Entdeckungen und Erfindungen, die
umso populärer waren und umso mehr
galten, je eher sie sich zu Gelde machen

oder irgendwie technisch und industriell
verwerten ließen.

Also die Astrologie lebt noch, sie ist
keine Mumie, wie ihre Verurtheiler glauben,
und sie wissen nicht, wie sie sich blamieren,
wenn sie gelegentlich noch diese Mumie
hervorholen, um dem p. t. Publicum zu
demonstrieren, wie erleuchtet unsere Zeit
sei und welchen Mummenschanz man
früher mit dem gestirnten Himmel trieb, ja
wie tief selbst noch Geister wie Tycho de
Brahe und Kepler in diesem »Aberglauben«
versunken waren. Ich habe anderweitig
schon darauf aufmerksam gemacht, dass
auch der verstandesklare Philosoph Bacon
zu jenen Abergläubischen gehörte und
nach vieler Prüfung sich unzweideutig
für die Astrologie ausgesprochen hat.
Noch ein anderer Denker lebte zu Bacons
Zeiten, der sich auf Sterndeutung verstand,
wenn er nicht gar, wie man meint, mit
Lord Bacon von Verulam identisch ist.
Ich meine Shakespeare. In der That
ist die große Vertrautheit beider mit der
Astrologie auffällig. Sie war dem Dichter
so geläufig, dass sie sich ungezwungen
in seine Bonmots und Sentenzen einflicht,
so in die Neckereien von Parolles und
Helena in »Ende gut, alles gut«. Parolles
sagt, er sei unterm Mars geboren. Darauf
bemerkt

Helena: Das habe ich mir immer gedacht —
unterm Mars.

Parolles: Warum unterm Mars?

Helena: Der Krieg hat Euch so herunterge-
bracht, dass Ihr nothwendig unterm
Mars geboren sein müsst.

Parolles: Als er am Himmel dominierte.

Helena: Als er am Himmel retogradierte.

Parolles: Warum glaubt Ihr das?

Helena: Ihr geht immer so sehr rückwärts,
wenn Ihr fechtet!

Dieser Vergleich der rückläufigen Po-
sition des Kriegsplaneten mit der Feigheit
des Parolles mag äußerlich erscheinen,
aber hier ist auch die Rückläufigkeit des
Mars zu seiner dominierenden Position

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 125, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0125.html)