Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 124

Landschaft Die Aufführung der »Neunten Symphonie« Wenban, Sion L.* (Wenban, Sion L.Graf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 124

Text

NOTIZ.

sagen, wie weit die Reproduction eines
Beethoven’schen Werkes dem objectiven
Tonbilde des Künstlers entspricht? Bei
jeder Aufführung genießen wir eine
individuell verfälschte Symphonie und es
sind gerade diese subjectiven Dinge, welche
unser Interesse erregen. Also piano, piano,
meine Herren! Einen solchen Vorgang
kann man auch nicht Verklecksen, Über-
malen und, wie es den Hütern der allein
seligmachenden Correctheit sonst beliebt
hat, nennen. Steht es doch den Herren
frei, in jedem Momente die Stimmen nach
der Originalpartitur zu revidieren und den
Hörern die echte unverbesserte »Neunte
Symphonie« vorzuführen. Ich fürchte aber,
dass die elementare und überwältigende
»Verfälschung« der Mahler’schen Auf-
führung dem Geiste der Beethoven’schen

Welt näher kommt als die anständige
Notentreue der conservativen Herren (unter
welchen sich sogar ein Operettencomponist
befindet). Es genügt nicht, die Noten
lebendig zu machen; es muss der Geist
lebendig werden.

Der Gesammteindruck der Aufführung
unter Mahler war ein gewaltiger. Alles
war aufs schönste beseelt. Keine melodi-
sche Linie, keine Seitenstimme, welche
nicht mit nervöser Empfindsamkeit durch-
tränkt gewesen wäre. Kein Ton, der nicht
in Erregung gezittert hätte. Die ganze
Aufführung war aus Lebendem gezeugt,
aus persönlichem Ringen und Leiden wieder-
geboren. So war die Aufführung mehr
als eine imposante Kunstthat, wie jene
unter Richter; sie war ein — Erlebnis.

NOTIZ.

Sion L. Wenban, aus dessen Nach-
lass die diesem Heft beiliegende Kohlen-
arbeit stammt, wurde, wie H. E. v. Ber-
lepsch in den »Graphischen Künsten«
erzählt, in Cincinnati, U. S., am 9. März
1848
geboren. »Er besuchte zuerst die
New-Yorker Akademie, verließ sie aber
bald und kam zuerst nach München, dann
nach Schleißheim, wo er ohne Anleitung
zu radieren begann. Er war unabhängig
und ist es geblieben. In der Zeit der
Pleinairmalerei malte er Abendstimmungen,
Dämmerung, Gewitterhimmel. Seine Tech-
nik wurde virtuos, ohne dass er es darauf
abgesehen hatte. Die Überschneidung
einiger leicht gewellter Höhenzüge, ein
paar Linien im Terrain, die Silhouette
eines Baumes gegen die Luft, die Ver-

kürzungen eines Feldweges, kurz, die
intime Landschaft wusste er zu erfassen
Er gieng vom Grundsatze aus, dass nicht
ein Verfahren durch ein anderes be-
einträchtigt werden dürfe. Kohle war ihm
das liebste Material; dabei wandte er oft
den feuchten Pinsel an, so dass sich eine
Art Brei bildete. Gegen die Technik der
Ölfarbe hatte er in späteren Jahren gerade-
zu eine Aversion Seine Platten ent-
standen meist auf Spaziergängen; auf
einer Handpresse machte er selbst die
ersten, oft auch einzigen Abdrücke —
Blätter, die an Größe der Auffassung
und Einfachheit des Stils neben Rem-
brandt’sche Arbeiten gestellt wer-
den können

Der Schluss des Fragments »Lionardo da Vinci« von Otto Sachs folgt im
nächsten Hefte.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0124.html)