Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 123

Landschaft Die Aufführung der »Neunten Symphonie« (Wenban, Sion L.Graf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 123

Text

GRAF: DIE AUFFÜHRUNG DER »NEUNTEN SYMPHONIE«.

der künstlerische Wille, nicht der Original-
text. Ebenso in den Symphonien. Auch
hier bricht an einzelnen Stellen die Flöte
und die Violine beim dreigestrichenen a
ab* und stückelt die Läufe in der unteren
Octave wieder an. Manchmal führt dieser
Zwang zu einer vollkommenen Unklarheit
der melodischen Linie (Part. S. 19, 53).
Auch hier gilt bei der sicheren, modernen
Spieltechnik der Wille des Tonschöpfers
und nicht der Buchstabe. Für den Leser
der Partitur ist es etwas unendlich Rühren-
des, wenn er solche Stellen erblickt, aus
denen ihm deutlich wird, wie der Künstler
seine gewaltigen und überströmenden Ton-
phantasien nur annäherungsweise durch
die Tonschrift fixiert hat, durch die Enge
der Realität gestoßen und gedrängt. Es
war Wagner, der in seinem Aufsatze
»Zum Vortrage der neunten Symphonie
Beethovens« gezeigt hat, wie man dem
gefesselten Genius des Künstlers die Freiheit
wiedergibt, mochte er auch gefasst sein,
wegen seiner Vorschläge als »eitler Frevler
an der Heiligkeit des Buchstabens« be-
handelt zu werden.

Wie man in den Clavierwerken und
in den Flöten- und Violinstimmen der sym-
phonischen Werke die reine melodische
Linie aus technischen Gründen nur in
einer andeutenden Gestalt notiert, so findet
sich auch in den Systemen der Blech-
bläser das innere Gehörsbild oft — der
unvollkommenen Technik der Naturhörner
und-Trompeten entsprechend — in einer
Form wiedergegeben, welche die ursprüng-
liche Inspiration nur undeutlich fixiert.
Ein Schulbeispiel ist der Anfang des
letzten Satzes:

Flöte: b a a d d f f a a d d f f a a d
Oboe:
Clarinette:
Trompete: a a a d d a a d d a a d

Man sieht, wie die Trompete den
melodischen Gang zu verdoppeln versucht
und beim f immer aussetzen muss, weil
ihm dieser Ton als Naturton fehlt. Über
alle diese Punkte hat Richard Wagner
(Ges. Schriften, Bd. IX, 275 ff.) ausführ-

lich gesprochen und »allen ernstlich ge-
sinnten Musikern als Anregung zu sinn-
vollem Nachdenken« vorgelegt. Findet
man den Gedanken, dass die innere
Phantasie Beethovens ohne Rücksicht auf
die Unvollkommenheit der Realität ihren
Flug genommen und dann oftmals das
Gehörsbild nur in unvollkommener Weise,
wie sie ihm die Mittel seiner Zeit er-
laubten, andeutungsweise fixiert hat, so
unerlaubt? Findet man ihn nicht kühn
und das grandiose, von der Realität ab-
geschiedene Wesen des heroischen Künst-
lers treffend?** Wenn es den modernen
Künstler reizt, dem Willen Beethovens
nachzuspüren und mit den gesteigerten
Mitteln unserer Zeit nach seinen Absichten
zur Geltung zu bringen, klingend zu
machen, was dem inneren Ohre erklungen
und nur mit Hilfsmitteln fixiert ist, so
wird er von Verehrung geleitet, die ihm
gebietet, das Kunstwerk nicht als classisches
Phantom, sondern als einen lebenden Or-
ganismus aufzufassen. »Bei der Entschei-
dung solcher Fragen handelt es sich
darum« — lauten Worte R. Wagners,
welche das Ganze zusammenfassen — »ob
man bei der Anhörung eines ähnlichen
Musikwerkes eine Zeitlang von den In-
tentionen des Tondichters nichts Deut-
liches wahrzunehmen oder dagegen das
zweckmäßigste Auskunftsmittel, ihnen ge-
recht zu werden, vorzieht. Das Auditorium
unserer Concertsäle und Operntheater ist
hierin allerdings an gänzlich unempfundene
Entsagung gewöhnt.«

Ich zweifle nicht, dass die Subjectivität
des Dirigenten oft den Beethoven’schen
Tongedanken individuell verfälschen kann.
Allein ist nicht jede Reproduction eines
fremden Kunstwerkes mehr oder minder
eine subjective Verfälschung? Das Hervor-
heben von Nebenstimmen, rhythmische
Accentuierung, die Hervorhebung von
Contrasten, Abwägung der Klänge, Grade
und Art der Steigerungen; ist nicht alles:
melodische Linie, Klang, Rhythmik und
Apojik subjectiv gefälscht oder, wenn es
besser klingt, gefärbt? Wer vermag zu

* Mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. der »Egmont«-Ouverture, wo die höheren Töne
sich stufenweise erreichen lassen.

** Der Einwand, Beethoven hätte Ventil-Instrumente erfunden, wenn er sie gebraucht
hätte, ist nicht stichhältig. Bei solchen Talenten wäre er wahrscheinlich Instrumentenmacher
geworden, nicht Schöpfer neuer Tonwelten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 123, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0123.html)