Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 102

Landschaft Das Lied vom Falken (Wenban, Sion L.Gorkij, Maxim)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 102

Text

DAS LIED VOM FALKEN.
Von MAXIM GORKIJ (Nižhnij-Novgorod).

Das Meer schlummerte.

Endlos, schläfrig athmend lehnte es
sich an das Ufer — es war schon ein-
geschlafen und regungslos erstrahlte es
im bläulichen Mondenschein. Sammetweich
und schwarz floss es mit dem weiten
südlichen Himmel zusammen, in tiefen
Schlaf versunken. Auf seiner Oberfläche
spiegelte sich das durchsichtige Spinn-
gewebe der Federwolken, die, stille stehend,
die goldenen Blicke der Sterne nicht ver-
hüllten. Es schien, als neige sich der
Himmel mehr und mehr zum Meere, um
zu erlauschen, wovon die unermüdlichen
Wellen flüstern, die schläfrig an das Gestade
hin ansteigen.

Die mit phantastisch gekrümmten Bäumen
bedeckten Berge hoben sich in starkem
Schwünge mit ihren Spitzen in die Höhe,
und ihre dürren, rauhen Umrisse — in
den sanften Nebel der südlichen Nacht
gehüllt — nahmen rundliche Formen an.

Die Berge schwiegen in ernstem Nach-
denken. Schwarze Schatten erstreckten sich
von ihnen aus über die grünlichen Rücken
der Wogen und bedeckten sie, als wollten
sie diese einzige Bewegung hemmen oder
das ewige Rauschen des Wassers, die
Seufzer des Schaumes und alle Töne zum
Schweigen bringen, die ringsumher die
geheimnisvolle Stille im bläulichen Silber-
schein des hinter den Gipfeln ruhenden
Mondes zu stören schienen.

»A—ala—ah—a—akbar! « seufzte
still Nadyr-Ragim-Ogly, der alte Krim-
hirte, der stets übelgelaunte, hohe, er-
graute, von südlicher Sonnenglut ver-
brannte, magere und weise Alte.

Ich lag mit ihm auf dem Sande neben
einem gewaltigen Felsen, der, vom Mutter-
berge losgelöst, nun in Schatten gehüllt,
mit Moos bewachsen, gar finster dalag.
An die dem Meere zugekehrte Fläche
haben die Fluten Schlamm und Seetang

angehäuft. Die Flamme unseres Feuers
beleuchtete ihn von der dem Berge zu-
gewendeten Seite; der Schein zitterte,
und über dem alten, tiefgefurchten Stein-
blocke huschten Schatten dahin. Er schien
uns denkend und fühlend

Wir beide, Ragim und ich, bereiteten
uns Suppe aus frischgefangenen Fischen;
wir befanden uns in einer seltenen Stimmung,
die — durchsichtig und durchgeistigt —
den Menschen zur Vertiefung in sich selbst
zwingt und keinen anderen Wunsch gibt,
als das Verlangen nach innerer Beschau-
lichkeit.

Das Meer aber schmeichelte dem
Ufer, und die Fluten rauschten so melan-
cholisch weich, als ob sie die Erlaubnis
erbitten wollten, sich an unserem Feuer
ein bisschen zu wärmen.

Hie und da hörte man aus der all-
gemeinen Harmonie des Geplätschers eine
höhere und muthwillig-tückische Note —
eine Welle war kühner an uns heran-
gestiegen. Ragim hatte die Wellen mit
Weibern verglichen, denn es schien ihm,
als begehrten sie, uns im langen Kuss zu
umfangen.

Nach vorne im Sande hingestreckt, den
Kopf dem Meere zugewendet, lag er und
blickte, in Gedanken vertieft, in die trübe
Ferne, indem er, auf die Ellenbogen
gestützt, das Kinn in der flachen Hand
barg. Seine zottige Hammelmütze war
ihm in den Nacken hinabgesunken, und
vom Meere her wehte Frische in seine
hohe, faltenbedeckte Stirn. Er philo-
sophierte, ohne zu fragen, ob ich ihm
auch zuhöre. Er kümmerte sich nicht im
mindesten um mich, als spräche er nur
mit dem Meere.

»Der rechtgläubige Mensch geht in
das Paradies ein. Wohin aber derjenige,
der da nicht dient Gott und dem Propheten?
Vielleicht ist er in diesem Schaume? Und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 102, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0102.html)