Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 103
Landschaft Das Lied vom Falken (Wenban, Sion L.Gorkij, Maxim)
Text
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diese silbernen Flecken auf dem Wasser, Der dunkle, sich erschließende Himmel »Ragim! Erzähle mir ein Märchen « »Wozu?« fragte Ragim, ohne sich |
»So! Ich liebe deine Märchen.« »Hab’ sie dir ja schon alle erzählt
Er wollte also, dass ich ihn bitte, »Wenn du willst, so singe ich dir Ich wollte das alte Lied hören, und |
Hoch in die Berge hinein kroch eine Ringelnatter und legte sich in eine feuchte
Felsenkluft. Zu einem Knoten verschlungen, lag sie da und blickte auf das Meer hinab.
Hoch am Firmament schien die Sonne, und die in Glut getauchten Berge
athmeten schwer zum Himmel empor; unter ihnen schlugen die Wellen an den
Stein
Und durch die Kluft, in Dunkel und Wasserstaub gehüllt, eilte ein Bach dem
Meere zu, über die Steine springend.
Ganz im weißen Schaum, grau und gewaltig, durchschnitt er den Berg und
ergoss sich ins Meer, grimmig heulend.
Plötzlich fiel in die Kluft, wohin die Ringelnatter sich verkrochen, vom Himmel
ein Falke mit durchbohrter Brust, Blut an dem Gefieder
Mit kurzem Schrei fiel er zur Erde und schlug in ohnmächtigem Zorn mit
der Brust an den harten Stein
Die Ringelnatter erschrak und verkroch sich hurtig; bald aber ward ihr klar,
dass das Leben des Vogels nur nach Minuten zähle
Sie kroch nahe an den durchbohrten Vogel heran und zischte ihm gerade ins
Gesicht:
— Was, du stirbst?
— Jawohl, ich sterbe! antwortete der Falke, tief Athem holend. — Rühmlich
hab’ ich gelebt Viel hab’ ich erlebt Tapfer hab’ ich gestritten Und
den Himmel hab’ ich gesehen. Du erspähest ihn nicht so bald Du armer Tropf!
— Nun, was ist denn der Himmel? — Ein öder Ort! Wie soll ich dort
kriechen! Hier ist’s mir herrlich ist’s warm und feucht!
So antwortete sie dem freien Vogel und verlachte ihn im Geheimen ob dieses
Unsinns.
Und sie dachte folgendermaßen: Magst du fliegen oder kriechen, du endest
gleich: Alles sinkt in die Erde, alles wird zu Staub
Doch der Falke fuhr auf einmal empor, erhob sich ein wenig und ließ seinen
Blick über die Kluft gleiten.
Durch das feuchte Gestein sickerte das Wasser, und es war beklemmend in der
dunklen Kluft und es roch nach Fäulnis.
Und der Falke schrie auf vor Kummer und Weh, indem er alle seine Kräfte
zusammenraffte: O, könnte ich mich nur noch einmal zum Himmel emporschwingen!
Die Ringelnatter aber dachte: In der That, es muss doch angenehm sein im
Himmel, da dieser da so sehr darnach seufzt!
Und sie rieth dem freien Vogel: Schlepp’ dich an den Rand der Kluft und
stürz’ dich hinunter. Es ist möglich, dass dir so die Flügel wieder heil werden und
du dich dann noch einige Zeit deines Elementes erfreust.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 103, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0103.html)