Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 104

Landschaft Das Lied vom Falken (Wenban, Sion L.Gorkij, Maxim)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 104

Text

GORKIJ: DAS LIED VOM FALKEN.

Und der Falke erbebte und schleppte sich mit verbissenem Schrei zum Absturz,
indem er sich mit den Krallen auf dem schleimigen Gestein fortbewegte.

Und als er da ankam, holte er mit den Flügeln aus. Er seufzte tief, seine
Augen erstrahlten in Glut, und er stürzte sich hinunter.

Und wie ein Stein an den Steinen hinunterkollernd, fiel er immer schneller,
brach sich die Flügel, verlor das Gefieder

Die Welle des Baches ergriff ihn, wischte sein Blut aus, hüllte ihn in Schaum
und trug ihn mit sich zum Meere.

Die Meeresfluten aber schlugen mit wehmüthigem Brausen an die Felsen
Und der todte Vogel verschwand im Reiche des Meeres



In der Kluft aber lag noch lange die Ringelnatter im Nachdenken über den
Tod des Vogels und über die Sehnsucht nach dem Himmel.

— Was hat er doch gesehen, der sterbende Falke, in dieser boden- und end-
losen Wüste?

— Zu welchem Ende beunruhigen solche, wie dieser da, im Tode ihre Seelen
mit der Liebe zum Himmel? Was wird ihnen denn dort geoffenbart?

— Ja, alles das könnt’ ich erfahren, wenn ich mich nur einen Augenblick in
den Himmel versetzen wollte.

Gesagt, gethan. In einen Knäuel zusammengerollt, fuhr sie durch die Lüfte,
und bald erglänzte sie an der Sonne wie ein schmales Band.

Geboren zum Kriechen, vermochte sie nicht zu fliegen! Sie wusste
das nicht und fiel auf die Steine herab. Doch kam sie nicht ums Leben, sondern
lachte laut auf

— Nun, siehe, worin die Herrlichkeit der Himmelsflüge besteht! Sie besteht —
im Fallen Lächerliche Vögel!

— Sie kennen die Erde nicht und sehnen sich fort, sie streben zum Himmel
empor und suchen das Leben in der schwülen Wüste.

— Dort herrscht nichts als öde Leere. Dort gibt es viel Licht, doch keinerlei
Nahrung und Stütze für ein lebendes Wesen.

— Wozu doch der Stolz? Wozu die Vorwürfe? Um die Sinnlosigkeit der
eigenen Wünsche zu verdecken?!

— Um unter ihnen die Untauglichkeit zu ernster Lebensarbeit zu verbergen?
Lächerliche Vögel!

— Nicht sollen mich fürderhin ihre Reden täuschen. Ich weiß selber alles.
Ich habe den Himmel gesehen!

— Zum Himmel erhob ich mich, ich ermaß ihn, ich lernte das Fallen kennen,
ich erschlug mich aber nicht und umso fester glaube ich an mich selbst.

— Es mögen diejenigen nur vom Truge leben, die die Erde nicht zu lieben
vermögen Ich kenne die Wahrheit.

— Und ihrem Rufen schenke ich kein Gehör. Ein Geschöpf der Erde — will
ich der Erde leben.

Und sie rollte sich wieder zusammen auf dem Stein und war stolz auf sich selbst.

Es schimmerte das Meer ganz in der südlichen Sonne, und rauschend schlugen
die Fluten an das Gestade.

In ihrem stillen Geplätscher tönte das Lied vom kühnen Vogel, der den
Himmel liebte:

O, muthiger Falke! Der du gelebt hast unter dem Himmel, dem unermess-
lichen und endlosen, als Liebling der Sonne!

O, muthiger Falke! Der du dein Grab gefunden im Meere, im unendlichen
Meere!

Todt bist du, todt Doch ewig lebt in den Liedern der Kühnen und Starken
dein heißer Ruf nach Freiheit, nach Licht!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 104, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0104.html)