Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 105

Landschaft Das Lied vom Falken Die Philosophie des Giordano Bruno II. (Wenban, Sion L.Gorkij, MaximKuhlenbeck, Ludwig, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 105

Text

KUHLENBECK: DIE PHILOSOPHIE DES GIORDANO BRUNO.

Es schwieg die opalene Weite des
Meeres, melancholisch rauschten die Wellen
auf den Sand, und ich blickte stumm hin-
über zu Ragim, der eben aufgehört, sein
Lied vom Falken dem Meere zu erzählen.
Auf dem Wasser zeigten sich immer zahl-
reicher jene Flecken, die von den Strahlen
des Mondes kamen Unser Kesselchen
lief still über.

Tändelnd wiegte sich eine von den
Wellen auf das Ufer und mit heraus-
forderndem Rauschen stieg sie zum Kopfe
Ragims empor.

»Wohin krabbelst du? Marsch!« —
trieb sie Ragim mit einem Handschlage
fort, und sie zog sich gehorsamst wieder
ins Meer zurück.

Mir kam das auffallende Benehmen
Ragims, der die Wellen beseelte, nicht

im geringsten lächerlich oder entsetzlich
vor. Ringsumher sah alles seltsam, weich,
sanft und lebhaft aus. Das Meer lag
ruhig da und athmete; sein Athem fiel
auf die Berge, die von der Tageshitze
noch nicht abgekühlt waren; man fühlte,
dass in seinem frischen Hauch viel starke,
unterdrückte Kraft verborgen lag. Auf
dem goldenen Grunde des tiefblauen
Sternenhimmels war etwas Feierliches auf-
geschrieben, was die Seele im Zauber
hielt und den Verstand mit der süßen
Erwartung einer Offenbarung beunruhigte.

Alles schlummerte, doch dieser Schlum-
mer war eine gespannte Wachsamkeit,
und es schien, als müsse sich alles in der
nächsten Secunde aus dem Schlummer
erheben und unbeschreiblich süße Töne
zu herrlichen Harmonien verbinden.

DIE PHILOSOPHIE DES GIORDANO BRUNO.
Von LUDWIG KUHLENBECK (Jena).
II.

In Giordano Brunos Lehrgedicht de
immenso
findet sich eine mit wissenschaft-
licher Phantasie angetretene Reise durch
die Sonnenwelt. Hier heißt es u. a.:

Werden sie* dir glauben,
Wenn du auf deine Heimatwelt dort zeigst
Und sagst, der dunkle Fleck im Silberglanze
Sei vor Jahrhunderten nicht dort gewesen?
Er habe sich im Lauf der Zeit verschoben?
Denn Ceres und Neptun wechseln hienieden
Im Zeitenlauf erheblich oft die Grenzen,
Wie altererbte Überlieferung nachweist!
Die Grenzveränderung, die ein Jahrhundert
Kaum merklich oft dem Küstennachbar wirkt,
Wird man von dort aus schwerlich einseh’n
wollen!
Und doch gibt, stetig und allmählich weichend,
Von Spaniens Strand genau soviel das Meer ab,
Wie’s fortspült an dem Küstenstrand bei Calpe.

Denn durch Jahrhunderte verblichen, hat die
Sage
Vom Wandern des Aleiden, der sich hier
Ein Siegeszeichen aufgerichtet, fast
Den Glauben bei der Nachwelt eingebüßt!
Und doch kann man daraus erseh’n, dass Thetis
Der Ceres Äcker zu erwerben strebt,
Und dass die letzt’re zum Entgelt dafür den
Pan
Auf eines hohen Berges Rücken weiden heißt,
Der eh’dem, eine Klippe nur, den Proteus sah,
Den meeresgrünen, wenn er seine Robben
hütete.
Und im Verhältnis zu der Erde Lebenszeit,
Kann solche Änderung des Anseh’ns nichts
bedeuten!
Was müsste erst geschehen, wenn von dort,
Vom Mondgestade aus sie merkbar würde?
Sieh’ nur, zu welchem Pünktchen England
schrumpfte,
Ein dünnes Härchen ward Italien,

* Nämlich die etwaigen Bewohner des Mondes, zu denen er den Leser gelangen lässt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 105, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0105.html)