Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 106

Landschaft Die Philosophie des Giordano Bruno II. (Wenban, Sion L.Kuhlenbeck, Ludwig, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 106

Text

KUHLENBECK: DIE PHILOSOPHIE DES GIORDANO BRUNO.

Und fast berühren sich die Küsten Afrikas
Und die Toscanas, und die Häfen Adrias
Sind kaum durch einen Silberstrich getrennt!
Wo ist Sicilien, sprich! Es war doch sonst
Ein großes Dreieck! Freilich gar zu weit
Sind wir von jener Meereseng’ entfernt,
Wo die Charybdis aus dem Jonischen
Und Scylla aus dem Meer Hesperiens
Die Wogen wechselseitig spei’n und schlürfen!
Nun geh’ und lehre jene Mondbewohner,
Es habe auf der Erde sich weit mehr
Verändert, als sie auf der Cynthia Antlitz
Von ihrem Standpunkt aus sich ändern seh’n!
So gib denn auch die Sorge auf, wieso
Es möglich sei gewesen, dass auch
unsere Art
Sich umgestaltet habe, wenn die Erde
selbst
Bald hier, bald dort den milden
Himmelsstrich
Mit vielgeschmückten, mannigfaltgen
Wesen,
Bald hier, bald dort ein winterliches
Kleid
Und einen grauen Wolkenschleier
führt.

In den letzten Versen bezeugt Bruno
sich auch, wie an vielen anderen Stellen
seiner Werke, als einen Vorgänger der
modernen, von Lamark, Goethe, Darwin und
Häckel fachwissenschaftlich begründeten
biologischen Entwicklungslehre, die
er übrigens, ebenso wie seine universelle
Weltanschauung, im allgemeinen mit weit
älteren Dichtern und Denkern, vor allem
mit dem Jonier Heraklit und dem Sikuler
Empedokles theilt.

Allein in der Auffassung des Trägers
dieses biologischen Entwicklungsprocesses
bildet ein wichtiges Moment einen erheb-
lichen Unterschied der Bruno’schen Ent-
wicklungslehre von der modernen, wenigstens
Häckels. Dieses Moment ist sein trans-
cendentaler Individualismus. Nicht
die Gattung, die für Bruno nur ein Collectiv-
name ist, sondern das Individuum ist ihm
das Dauernde im Wechsel; um die
Terminologie des neuesten Buches von
Häckel* zu gebrauchen, Bruno ist kein
Thanatist, sondern entschiedener Athanist.
Anstatt zu sagen, das Individuum stirbt,
die Gattung dauert, muss man vielmehr
in Brunos metaphysischer Denkform sagen:
die Gattung, d. h. die zeitweilige biologische
Daseinsform des Individuums stirbt, das In-
dividuum selbst, als übersinnlicher Träger

der Gattung, ist ewig. Dieser allerdings im
letzten Grunde auch nur relative transcen-
dentale Individualismus, den er übrigens
ebenfalls mit Heraklit und Empedokles
theilt und der vielfach an die Reincarna-
tionslehre der indischen Theosophie
anklingt, führt uns auf seine Monadologie
zurück, die bekanntlich für Leibnitz, der
sie zweifellos benützt hat, ohne sie zu
nennen, die Grundlage seines individua-
listisch vertieften Theismus abgegeben hat.
Die All-Materie differenziert sich seit
Ewigkeit her in unzählige Einheiten, Ein-
heiten nicht nur von rein stofflicher
Function, die alsdann, wie der Materialis-
mus meint, die höheren seelischen Wir-
kungen vermöge einer unbegreiflichen
Wirkung ihrer jeweiligen räumlichen
Constellation vorübergehend zur Er-
scheinung bringen, d. h. nicht nur in
blinde Atome, sondern in seelische,
geistige Centren, Monaden; und es ist
nur ein Gradunterschied der inneren
Zustände, der die seelischen Monaden von
den blinden (schlummernden) Stoff-Atomen
unterscheidet. Der Unendlichkeit Mittel-
punkt ist ja überall, in jedem Punkte
des unendlichen Raumes ist ihr ganzes
Wesen gegenwärtig; darum ist das Größte
zugleich das Kleinste:

Der Dinge Substanz ist das Kleinste,
Und du findest dasselbe zugleich von unend-
licher Größe,
In ihm hast du Atom und Monad’ in dem
wogenden Weltgeist,
Den niemals die Masse beschränkt, der alles
mit seinem
Eigenen Zeichen bestimmt, und wenn du den
Dingen ins Herz siehst,
Du gewahrst als Wesen und Stoff von allem
das Kleinste.

In der Linie heißt es Punkt, im Körper
Atom, im Menschen die Seele. Das Kleinste
ist ebenso unvergänglich wie das Größte,
das Ganze; vergänglich sind nur die
äußeren Constellationen und die dadurch
bedingten inneren Zustände der einzelnen
Monaden, von denen jede das Weltall in
seiner besonderen Weise wiederspiegelt.
»Du findest nirgends zwei gleiche Dinge,
weder an Größe noch Gewicht, noch an

* Welträthsel, Jena 1900.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 106, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0106.html)