Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 129
Text
SONETTE:
DER LIEBESBRIEF.
Von ihrer Hand erwärmt und ganz von ihr
Durchathmet, da beim Schreiben sie sich dicht
Zu dir herniederbog, und ihr Gesicht
Allmählich röther glühte über dir:
Von ihrem Sein erfülltes Blatt Papier —
An Stelle ihres Auges, das sonst licht
Von dem Verschwiegenen des Innern spricht,
Enthülle du nun ihre Seele mir!
Gern hätt’ ich sie belauscht, wenn dann und wann
Bei einem rückhaltloseren Erguss
Sie ihre Brust genähert deinem Rand —
Wenn sie aufblickend in die Ferne sann
Und dort im magischen Zusammenfluss
Der Seelen ihrer Liebe Ausdruck fand.
Ein Bild erschien vor mir, vom Traum belebt,
Das trug der Liebe Flügel und Panier.
Zart war der Stoff und ins Gespinst verwebt,
Entseeltes Antlitz, Zug um Zug von dir.
Wirres Getön, wie es sich im Revier
Der Grenzen zwischen Tag und Nacht erhebt,
Umbrauste mich und liess mich angstdurchbebt,
Betäubten Sinnes und die Augen stier.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 129, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0129.html)