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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 171

Text

GRAEVELL: DIE RENAISSANCE DES KELTENTHUMS.

stand der Ovate, der das heilige Schwert
hielt. Die Barden kletterten nach einander
auf den heiligen Stein und standen dann
zwischen dem Oberpriester und dem
Schwertträger. Nun sangen sie vor dem
Volk. Manchmal begleitete sie eine Harfe.
Um den Stein war Platz für 40.000 Zu-
schauer. Von 12 Uhr bis Mitternacht
fanden Declamation und Gesang statt.
Große Preise waren ausgesetzt. Jeder, der
zur Verherrlichung des Gälischen beitrug,
wurde zum Druidenorden zugelassen, welcher
in drei Grade zerfiel: die Druiden, die
weiße Gewänder trugen, die Barden in
Himmelblau und die Ovaten in Grün!
Zu letzteren gehören auch Frauen. Als
Hwfa-Môn fungierte ein Pastor von
Cardiff. Es waren auch zum erstenmale
zu dieser Feier Bretonen eingeladen, die
in der Zahl von 25 Abgeordneten er-
schienen. In diesem Jahre (1900) soll die
Festfeier in Liverpool stattfinden und 1901
in Merthyr. — Es ist ein erhebendes Ge-
fühl für einen Gälen, dass er sich sagen
kann: Die Reihenfolge der Erzpriester
ist ununterbrochen bis heute. Es liegt
etwas ungemein Ehrfurchterweckendes in
einer solchen uralten, geheiligten Institution,
die an den römischen pontifex maximus
und seinen Fortsetzer, den Papst, erinnert.
Die Germanen haben nichts Ähnliches an
die Seite zu stellen, und ihre nationale
Tradition ist durch den Einfluss des Latei-
nischen und die »moderne« Bildung unter-
bunden worden. Hier ist noch Volks-

thümliches, Ursprüngliches, Uraltes, das
in unsere Zeit hereinragt wie der egyp-
tische Sphinx.

Auch das keltische Volk hat etwas
vom Sphinx. Es hat etwas Räthselhaftes,
für uns Unheimliches an sich. Es hat
darin Ähnlichkeit mit den Juden. Ahnen
wir, dass hier noch Kräfte verborgen
liegen, die noch nicht völlig verwertet
sind und deren Macht wir nicht verstehen,
die uns aber gefährlich werden können?
— Die Gälen haben eine alte Sage vom
König Arthur, der, nach dem Zauberlande
Avalon entrückt, dereinst wiederkommen
und mit seinem Schwerte Ex-Kalibur das
Sachsenross zurücktreiben und sein Reich
aufs neue befestigen wird. Die Ruinen
seiner Burg liegen öde und in erhabener
Melancholie am Strande des blauen Meeres
in Cornwall. Sie werden nicht wieder
aufgebaut werden; aber sein Geist zeigt
sich wieder, und wir wohnen der Auf-
erstehung keltischer Gesinnung, keltischen
Ritterthums mit Genugthuung bei. Ihr
verdanken wir den Helden Tristan, den
König Marke und die blonde Isolde, ihr
verdanken wir Parsifal und den heiligen
Gral! — Und so grüßen auch wir in
Erinnerung an gemeinsame Kämpfe gegen
die Römer, an gemeinsame Literaturthaten
und Kunstschöpfungen unsere keltischen
Brüder, die treu an ihrem Volksthum
halten (trotz modernen Firnisses), mit dem
Ruf der Mannen in des Kelto-Germanen
unsterblichem Musikdrama: Cornwall Heil!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 171, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0171.html)