Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 174

Hofoper: »Jolanthe« von Tschaïkowsky * (Graf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 174

Text

THEATER.

seinen Stil eigentlich von selbst dem
Künstler aufzwingen sollte, um alles her-
zugeben, wozu er fähig ist!

Die Alten haben nach ganz kleinen
Entwürfen, welche nur die Hauptmassen
der Composition festlegten, frei im großen
gemeißelt. Es sind noch solche »Skizzen«,
wonach sie gearbeitet haben, erhalten.
Buonarottis halbausgeführte (»verhaute«)
Marmorgestalten sind ja bekannt, ein Be-
weis, dass er sich manchmal in den Di-
mensionen versah, also kein fertiges Gips-
modell haben konnte. Auch unsere Bild-

hauer müssen wieder lernen, gleich nach
der Natur in Stein zu meißeln
.
Nachdem der Verfasser einige für Fach-
collegen wertvolle technische Fragen (über
die Unzulänglichkeit des Wachsgusses)
erörtert hat, kommt er zu dem Schlusse,
dass nur auf der Grundlage einer Rück-
eroberung der Technik aus der mo-
dernen Plastik wieder eine große Kunst,
die wir verstehen, eine wahrhaft zeit-
gerechte Kunst werden kann.

KIEL. W. SCHÖLERMANN.

THEATER.

Hofoper: »Jolanthe« von Tschaï-
kowsky. Große Bühnennaturen sind
charakterisiert durch die intuitive Sicher-
heit, mit welcher sie das Centrum der
dramatischen Handlung finden. Wenn man
dann von diesem dramatischen Höhepunkte
auf die ganze Musik zurückblickt, muss
man die Musik mit gleichmäßig wach-
sender Gewalt diesem zuströmen sehen.
Wie der Künstler diese Spannung her-
stellt, ob durch furchtbare Gegensätze
(»Don Juan«), durch einen elementaren
Ausbruch der Leidenschaft (»Fidelio«),
durch eine langsame Anhäufung und
plötzliche Entladung nervöser Energien
(Wagner) — ist durch Art und Kraft
seiner Anlage bestimmt. Allein auch bei
kleineren Naturen muss die Höhensituation
untrüglich getroffen sein (Vide »Cavalleria
rusticana«). Ein kleines Danebengreifen
und Verfehlen und das Musikdrama
ist, trotz der schönsten Musik, verfehlt.
In der »Jolanthe« bieten sich dem Com-
ponisten sogar zwei solcher Höhepunkte

an dramatischem Geschehen dar. Jene
Scene, in welcher der ritterliche Jüngling
in der blinden Königstochter die Sehnsucht
nach dem Licht zu erwecken sucht; oder
die Scene, in welcher die blinde Jolanthe
wieder das Licht erlangt hat und die
Welt erblickt. Beides dramatische Scenen
ersten Ranges. Die erste treibt die Hand-
lung gewaltig nach vorwärts, die zweite
bringt sie zur Explosion. Tschaïkowsky
ist an diesen beiden Scenen, welche nach
musikalischer Entzauberung rufen, in sich
versponnen und träumerisch darüber hin-
weggegangen. Was hilft ihm nun die ganze
Schönheit, Innigkeit, Empfindung seines
lyrischen Talentes! Wie eine Frau, will
eine Oper nicht platonisch angeschmachtet,
sondern mit Energie und Sicherheit ge-
führt werden. Tschaïkowsky ist sie ent-
glitten, während er sie mit zarten Hymnen
besingt Die Vorstellung wurde von
Gustav Mahler mit höchster Feinheit
geleitet. MAX GRAF.

Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 174, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0174.html)