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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 173

Text

BÜCHER.

die subtile, innig durchdringende, dramatische
Empfindung der Menschenliebe und des Mit-
leidens, die seine Werke durchstrahlt wie bei
Maeterlinck. Wir sehen in all seinen Werken
die heftigste Farben- und Linienkraft so gut
wie die zarteste Innigkeit; die tragisch-drama-
tische Äußerung so gut wie die friedsame,
heitere Ruhe; das Phantastische so gut wie
das Einfachste, Stilisierte; und so ist er — mit
Derkinderen an der anderen Seite — der Bahn-

brecher gewesen für die neue Kunst in Holland.
Was er in seinen letzten Werken versucht,
das ist das stete Hinaufführen des Ausdrucks
in höchsten Charakter und höchste Reinheit;
doch immer in Beziehung zu Form, Farbe,
Linie. Thorn Prikker hat einmal Jan Toorops
Wesen Van Deyssel gegenüber also formuliert:
»Die Essenz des Schönen in der Natur zu
geben, ganz abstrahiert von der Form,
das ist sein Streben.« —.—

BÜCHER.

Edmund Hellmer: Lehrjahre in
der Plastik. Wien, Kunstverlag Anton
Schroll, 1900. — Wenn ein Künstler von
Charakter das Wort ergreift, um über
seine Kunst etwas zu sagen, so muss er
gewichtige Gründe dazu haben, denn in
jedem echten, schöpferischen Geist wohnt
die Schweigsamkeit der Seele, die instinctive
Scheu vor der Zergliederung des »zeu-
genden« Geheimnisses. Hellmer hat diese
Künstlerkeuschheit einen Augenblick ab-
gestreift, aber der Bildhauer in ihm will
sich nicht verleugnen, nicht »reden« statt
»bilden«, sondern es war ihm lediglich als
Künstler darum zu thun, sich einen Ge-
danken, der ihn seit Jahren verfolgte, von
der Seele herunterzuschreiben. So hat er
eine Broschüre verfasst, die anregend und
beachtenswert erscheint, selbst über die
strengen Grenzen der Bildhauerei hinaus
von Bedeutung für die Zukunft. Von der
Frage ausgehend, weshalb die Bildhauerei,
die doch ursprünglich aus dem Volke her-
vorgegangen, im allgemeinen beim Volke
heute so geringes Verständnis findet, glaubt
Hellmer, dass der Grund dieser Entfremdung
in dem mangelnden plastischen Empfinden
der Gegenwart liege, beim Künstler nicht
minder wie beim Publicum. Das Ver-
ständnis für das »Material« ist uns ab-
handen gekommen; im Material aber
wurzelt alles plastische Gefühl. Schnitzten
die Alten ihre Figuren aus Holz, so haben
sie dieselben ganz anders, dem Materiale
entsprechend, behandelt und durchgebildet,
als wenn sie dieselben in Marmor mei-
ßelten oder in Metall schmiedeten. So
muss auch die Elasticität, fast darf man

sagen: »Beweglichkeit« der Bronze den
Plastiker, der dafür das richtige Empfinden
hat, vom Anfang bis zu Ende beeinflussen.
Die Mehrzahl unserer heutigen Bildhauer
sind aber nur Modelleure. Sie bilden
nur in Thon oder Wachs, das »Übertragen«
überlassen sie den Hilfsarbeitern. Einem
solchen Werke merkt man aber die Her-
kunft an: es ist ein Bastard, ein »half
caste« im künstlerischen Sinne. Den
»Kunstschulen« blieb es vorbehalten, das
eigentliche plastische Empfinden zu fälschen
und im Keim zu ersticken. Hellmer tritt
daher für eine Reform der plastischen
Lehrmethode
ein. Aus der Bildhauer-
schule sollte wieder eine Werkstatt werden,
wie früher. Darin hat der junge Bild-
hauer nicht nur einen Drill im Zeichnen
und Modellieren durchzumachen, sondern
von Anfang an auch im Meißeln, Metall-
bosseln, Bronzegießen, Holzschnitzen und
Ciselieren. Zu diesem Ende will Hellmer
eine Ausweitung der Unterrichtsräume im
großen Stil durchgeführt sehen. Modellier-
säle, Marmor-Ateliers, Versuchs-Bronze-
gießereien und ein chemisches Laboratorium
sind erforderlich, jede Abtheilung unter
Leitung eines Fachtechnikers. Hier sollen
die Schüler ihr Material kennen und be-
herrschen lernen, damit sie wieder zu der
»Mündigkeit« kommen, die wir an den
Alten bewundern. Durch intime Ver-
trautheit mit dem Geist und Charakter
des Materials würde auch unsere viel-
beklagte Stillosigkeit von selber ver-
schwinden, denn sie beruht zum großen
Theile auf der mangelnden Folgerichtigkeit
in der Behandlung des Materials, welches

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 173, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0173.html)